“Die Zeit kommt.”
Nietzsche und die politische Krise der Gegenwart
Hans Sluga
(Unveröffentlichter Vortrag an der Universität Freiburg, Ma1 2012)
1.
Ich beginne mit zwei Überlegungen. Die erste ist, dass wir uns heute in einer globalen politischen Krise befinden, die uns zunächst einmal mit einer Zahl von sehr schwierigen aber unmittelbar praktischen Problemen konfrontiert. Ich brauche die vermutlich nicht aufzuzählen, sie sind uns zureichend bekannt. Aber dazu kommt noch etwas anderes, das vielleicht weniger ins Auge sticht, nämlich, dass diese Krise auch unser Verständnis, von dem was Politik bedeutet, was wir von ihr zu erwarten haben, und was sie von uns verlangt, betrifft – dass, um es anders zu sagen, auch unser Begriff von Politik in eine Krise geraten ist zusammen mit einer ganzen Reihe anderer politischer Begriffe wie Staat, Regierung, Freiheit, Recht, Demokratie, usf. Unser Verlust einer klaren Begrifflichkeit ist ernst zu nehmen, weil menschliche Politik ihrer Natur nach reflexiv ist. Ich meine: Was Politik ist, wird nicht nur von äußeren Umständen bestimmt, sondern auch von der Weise, wie wir diese interpretieren. Menschliche Politik gibt es nicht, ohne dass wir ein Bewusstsein, ein Verständnis von ihr haben; sie ist keine natürliche Art, deren Identität und Charakter unabhängig von unserem Denken und Verstehen festliegt. Zu alldem ist viel zu sagen, das aber hier erst einmal beiseite zu setzen ist.
Meine zweite Überlegung ist, dass wir das, was politische Philosophen und Theoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts unternommen haben, um unsere politischen Begriffe und insbesondere unseren Begriff von Politik neu zu fassen, nur dann beurteilen können, wenn wir die Natur, das Ausmaß , und die Entwicklung dieser Krise in den Blick bekommen. Ohne ein solches Verständnis könnten die Bemühungen dieser Denker unmotiviert erscheinen. Ich nehme nun an, dass die Begriffskrise, von der ich spreche, hauptsächlich ein Nacheffekt der französischen Revolution und der darauf folgenden Veränderungen und Verwerfungen in der politischen Ordnung Europas ist. Wesentlich ist hier, was Lorenz von Stein über die sozialen Strömungen in Frankreich nach der verfehlten Juli-Revolution von 1831 und deren radikal ablehnende Haltung zu Staat und Politik geschrieben hat. Wichtig ist auch die Kritik von Staat und Politik im Anarchismus, Sozialismus, und Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts. Ich will mich im Folgenden aber auf Nietzsche konzentrieren, der ebenso wie die radikalen Denkern des neunzehnten Jahrhunderts dem modernen Staat kritisch gegenüber steht, deren negative Bewertung von Politik aber nicht teilt, der, in anderen Worten, den Begriff der Politik von dem des Staates trennt und der, in dieser Hinsicht, charakteristische politische Denker des folgenden Jahrhunderts wie Carl Schmitt, Hannah Arendt, und Michel Foucault, vorwegnimmt.
Es geht mir dabei erstens darum, Nietzsches politischen Denken als ein Symptom der sich entwickelnden politische Begriffskrise zu verstehen. Es kommt mir also zunächst nicht auf die Richtigkeit seiner Darstellungen an, sondern auf ihren zeittypischen Charakter. Ich befasse mich aber auch mit Nietzsche, weil er uns – in einer Weise, die noch zu zeigen ist – eine besonders einsichtsreiche Diagnose seiner und unserer Zeit anbietet.
2.
Nietzsche hat sich immer wieder mit der Notwendigkeit einer neuen Politik auseinandergesetzt – von den letzten Abschnitten seiner Geburt der Tragödie an bis zu den späten Notizen in Der Wille zur Macht. Seine Auffassungen sind dabei, wie in jeder anderen Hinsicht, stets wechselhaft, stets provozierend, manchmal überzeugend, und manchmal abstoßend. Ich will mich hier will hier hauptsächlich mit einen Abschnitt aus Menschlich Allzu Menschlich befassen, mit dem Titel „Ein Blick auf den Staat, weil er mir besonders einsichtsreich scheint und ein Bild von Nietzsches politischem Denken zeichnet, das von dem üblichen, aus den späten Notizen abgeleiteten, abweicht. ich nähere mich diesem Abschnitt auf einem Umweg über diese bekannteren späten Gedanken.
Es ist in der letzten Schaffensperiode, in der Nietzsche in pointierter Weise die Notwendigkeit einer neuen, einer neuen großen Politik ankündigt. „Die Zeit für kleine Politik ist vorbei“, schreibt er jedenfalls 1886 in Jenseits von Gut und Böse.[1] Und ungefähr zum gleichen Augenblick heißt es in seinem Tagebuch: „Genug, die Zeit kommt, wo man über Politik umlernen wird.“[2]
Ich frage mich nun, was solch radikale Vorhersagen motiviert haben mag. Sicherlich nicht die politischen Umstände der Mitte der achtziger Jahre. Nicht, zum Beispiel, das gewohnte Säbelrasseln auf beiden Seiten der Deutsch-Französischen Grenze. Das Jahrzehnt war in Wirklichkeit eine Zeit der Konsolidierung in Europa. Die revolutionären Impulse der ersten Jahrhunderthälfte waren verpufft. Die nationalen Aspirationen Deutschlands und Italiens hatten sich erfüllt. Im Großen und Ganzen, war in Europa Friede in Sicht für die nächsten dreißig Jahre. Nein – Nietzsche dachte in größeren Zeiträumen und Begriffen. In Jenseits von Gut und Böse war sein Blick auf das kommende Jahrhundert gerichtet und seinen anscheinend unausweichlichen “Kampf um die Erd-Herrschaft.“[3] Und in seinem Tagebuch beschrieb er eine Politik, in der es um “umfänglichere Herrschaftsgebilde”, zukünftige “Herren der Erde”, “die Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden” gehen sollte und um den “Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen,“ die sich Europas bedienen würden, „um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am ‚Menschen‘ selbst als Künstler zu gestalten.“ Solch ungeheuerliche Visionen waren nicht das Produkt der politischen Entwicklungen der achtziger Jahre; sie entstammten vielmehr Nietzsches atemloser Gewissheit, dass er in einer schnell vergehenden Zeit lebte. Nietzsche sprach vom Zwang zu einer neuen, großen Politik, weil er, im Unterschied zu seinen Zeitgenossen, die Flut des Nihilismus um sich steigen sah – langsam aber unerbittlich – im Lauf der „nächsten zwei Jahrhunderte”, wie es im Vorwort von Der Wille zur Macht heißt.
Aber was heißt „Nihilismus“ hier? Wir müssen so fragen, weil der Begriff Nihilismus, selbst bei Nietzsche, mit vielen Gedankenassoziationen belastet ist. Nach gemeiner Auffassung identifiziert Nietzsche den Nihilismus mit Anomie – einer Lage, in der wir überhaupt keine Werte mehr haben und demnach nicht mehr im Stande sind, bewusste Entscheidungen zu fällen. Nietzsche definiert den Nihilismus aber oft in anderer Weise. So schreibt er: Nihilismus bedeutet, dass “die obersten Werte sich entwerten.” (WP, 2) Nihilismus ist “die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man anerkennt, [handelt].“ (WP, 2) Der Nihilismus, zerstört in anderen Worten die Ordnung und Hierarchie unserer Werte und damit ihre Rechtfertigung, aber nicht unbedingt alle Werte. Nihilismus ist folglich nicht mit Anomie gleichzusetzen.
Bedenken wir, in diesem Sinne, die bekannte Parabel des tollen Menschen in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft. Wir können diesen Aphorismus auch als einen Beitrag zu Nietzsches politischem Denken lesen können, indem es in ihm ja auch um das Leben von Menschen in einer Polis geht. Ein toller Mensch zündet seine Laterne am hellen Tag an, so heißt es, und stürzt schreiend auf den Markplatz: „Wo ist Gott? Wo ist Gott?” Die Männer dort lachen ihn aus, denn sie wissen bereits, dass Gott tot ist; sie sind sich aber auch gewiss, dass ihr eigenes Leben ohne Gott weiter geht. Nietzsches Formulierungen erinnern uns an Diogenes den Zyniker und seine Begegnung mit den Bürgern des demokratischen Athens. Die Männer auf dem Markt müssen wir uns also zunächst einmal als Athener des vierten Jahrhunderts vorstellen: als aufgeklärt, zivilisiert, demokratisch in ihrer Gesinnung, gewiss weltlich orientiert, wahrscheinlich auch als Gewerbetreibende und Händler. Sie leiden sicher nicht an Anomie, denn sie schätzen ihr kultiviertes, städtisches, tolerantes Leben; sie schätzen offenbar auch leichte Scherze und schnellen Witz; und sie schätzen vermutlich ebenso ihr tägliches Handeln und Feilschen. Wir können uns den Sophisten Protagoras als ihren Sprecher vorstellen, wenn er spöttisch sagt: “Was die Götter betrifft, so weiß ich nicht ob sie existieren oder nicht existieren; die Sache ist zu schwierig und das menschliche Leben zu kurz.“
Die Menschen in Nietzsches Parabel leiden also gewiss nicht an Anomie. Es ist nach Nietzsche nur die spezifische Entwicklung der christlichen Moral, die uns die Identität von Nihilismus und Anomie suggeriert. So schreibt er in seinem Tagebuch, dass der Untergang des Christentums an Hand seiner eigenen Moral einen “Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung” produziert hat. „Rückschlag von ‘Gott ist die Wahrheit’ in den fanatischen Glauben ‘Alles ist falsch’.”[4] Aber, wir müssen verstehen, dass dies für Nietzsche eine Überreaktion auf den vorgehende Weltdeutung darstellt, die psychologisch verständlich aber nicht unvermeidlich ist. Er fügt noch hinzu, dass “die Undurchführbarkeit einer Weltanschauung, der ungeheure Kraft gewidmet worden ist”, das Misstrauen erweckt, „ob nicht alle Weltanschauungen falsch sind.“ Das bedeutet nun auch wieder nicht, dass dieses Misstrauen begründet ist. Ich finde zusätzliche Unterstützung für meine Interpretation in Nietzsches Unterscheidung von aktivem und passivem Nihilismus. Der passive Nihilist ist, in der Tat, jemand, der keine Werte mehr hat und der daher nicht mehr im Stande ist bewusst zu wählen und zu handeln. Der aktive Nihilist hat andererseits noch etwas, das ihn motiviert – wenn es auch nur der Wert der Zerstörung selbst ist. Nietzsche spricht von dieser Art von Nihilismus als überaus menschlich und selbst mächtiger als der passive, anomistische Nihilismus. In seiner Abhandlung Zur Genealogie der Moral weist er verschiedentlich darauf hin, dass der Mensch eher Nichts will, als dass er nicht will.[5] I schließe also, dass der anomistische Nihilismus für Nietzsche nur eine Variante des eigentlichen Nihilismus ist; dass das Wesen des Nihilismus nicht im Verlust aller Werte besteht sondern im Verlust einer Ordnung und Hierarchie der Werte.
Dieser Verlust ist für Nietzsche aus zwei Gründen gefährlich. Zum ersten, so sagt er, erweisen sich unsere Werte ohne eine solche Hierarchie als unfundiert. Es ist nicht, dass unter nihilistischen Bedingungen alle Werte verschwinden; im Gegenteil kann eine Vielzahl von miteinander konkurrierenden Werten zum Vorschein kommen, die aber, , alle in gewissem Sinne gleichwertig sind, weil keine Ordnung mehr unter ihnen besteht. Zum zweiten glaubt Nietzsche, dass menschliche Größe und damit eine Antwort auf die Frage, was das menschliche Leben bedeutend macht, nur möglich sind, wenn es eine Ordnung und Hierarchie von Werten gibt.
Wir können von unserer Gegenwartskultur her verstehen, was Nietzsche im Sinn hat. Wir preisen unseren eigenen kulturellen Pluralismus und sprechen daher oft gar nicht mehr von Werten sondern von subjektiven Vorzügen, persönlichen Haltungen und Interessen. Für manche gilt das Trivialste und Oberflächlichste für ebenso viel wie das Größte und Tiefste. Wir finden uns zudem in einer Welt, in der sich unsere Auffassung, von dem was wichtig ist, fortwährend ändert. Aber das heißt nicht, dass uns Garnichts mehr von Bedeutung ist. Wir bewegen uns keineswegs auf einen Zustand der Anomie zu. Abhandengekommen ist uns anstatt der Glaube an eine einzige Ordnung und Hierarchie von Werten. Das mag gut oder schlecht sein, aber die Tatsache der Fragmentierung und Pluralisierung von dem was uns angeht ist unbezweifelbar. Wenn man Nietzsche richtig liest und nicht als Verkünder einer kommenden Anomie, dann hat er das, was wir jetzt erfahren, genau mit dem Namen Nihilismus vorhergenannt.
3
Wir werden Nihilismus, in Nietzsches Sinn, besser verstehen wenn wir nach der Politik blicken. Dort manifestiert sich der Nihilismus nach Nietzsches provokanter Auffassung in der Form des demokratischen Staates. Sein Begriff dieses Staates ist dabei an Platons Bild der demokratischen Polis orientiert. Diese Polis, so Platon, ist ein Ort der “förmlich überquillt von Freiheit und Schrankenlosigkeit im Reden”. Es ergibt sich, dass in dieser Polis “alles erlaubt ist“, und „so wird doch offenbar jeder sein Leben so gestalten, wie es ihm gerade gefällt.“ Die demokratische Polis sieht daher aus „wie ein buntes, in allen Farben prangendes Gewand“.[6] Platons Polis erkennt also keine Rangordnungen an, weder zwischen Männern und Frauen noch zwischen Freien und Sklaven. Erbaut auf den Idealen der Selbstverwirklichung und der subjektiven Freiheit, ist die demokratische Polis zugleich ein Ort fortwährender Unruhe und drohender Auflösung. Die demokratische Polis ist, in der Tat, nach Platon durch den Zerfall anderer und besserer Formen von Regierung zustande gekommen und sie wird mit Notwendigkeit in ein noch schlimmeres System zerfallen. Dem Ausgang dieser Entwicklung lässt sich nur dadurch entkommen, dass ein Philosophen-König zur Herrschaft kommt, der die Polis aus seinem Verständnis der wahren Weltordnung neu gestaltet.
Die moderne Demokratie hat, nach Nietzsche, dieselben Tendenzen. Sie ist gleichfalls ein Ort des moralischen und politischen Pluralismus. In ihr fehlt es gleichfalls an Rangunterscheidungen und ist so gekennzeichnet durch Bewegungen wie Liberalismus und Sozialismus, Feminismus und Egalitarismus. Die moderne Demokratie ist nach Nietzsche ebenfalls unstabil und zur Auflösung bestimmt. So sieht also für ihn der politische Nihilismus aus – eine Lage aus der uns keinerlei kleine Politik erlösen kann. Um diesen politischen Nihilismus zu überkommen brauchen wir nach Nietzsche eine neue Ordnung und Hierarchie von Werten und Rangunterschieden. Die neue große Politik, die Nietzsche im Sinn hat, ruft daher nach Herren und Herrschaft, nach Hierarchie und Ordnung. Nur in einer Hinsicht divergiert Nietzsches Konzeption von Platons. Wo Platon von einem Wissen der Ideen spricht und so dem wissenden Philosophen die Hauptrolle in seiner idealen Polis zuspricht, glaubt Nietzsche an die kreative Erfindung von Werten und an „Künstler-Tyrannen“, die sie schaffen und uns aufdrücken sollen.
Soweit zu Nietzsches spätem politischen Denken. Ich wende mich jetzt zu einer früheren Phase zurück, in der er konkreter und weniger apokalyptisch, und jedenfalls den historischen Tatsachen näher über Politik spricht. Es wird in dieser Phase auch klarer, warum er über eine neue Politik, ein neues Politikverständnis jenseits des Staates nachdenken will.
4.
Es ist in Menschlich Allzu Menschlich, wo Nietzsche zu seiner systematischen Kritik der modernen Demokratie ansetzt. Es ist auch an dieser Stelle, wo er zum ersten Mal die dramatische Formel „Die Zeit kommt“ – nämlich die Zeit für eine neue Politik, für ein neues Verständnis von Politik – ins Spiel bringt. Und es ist ebenfalls an dieser Stelle, wo er zum ersten Mal von der Idee einer großen Politik spricht, doch, wie sich herausstellt noch nicht im Sinne seiner späteren Bemerkungen zu diesem Thema. Zunächst schreibt er jedenfalls, dass die mittelalterliche Kirche noch ein universales, die gesamte Menschheit einschließendes „höchstes“ Ziel hatte; dass dagelegen die Staaten und Nationen der neueren Geschichte „einen beklemmenden Eindruck“ machen, und dass sie “kleinlich, niedrig, materiell, und räumlich beschränkt” erscheinen – und also auch in diesem Sinne nur eine kleine, kleinliche Politik betreiben können. Nietzsche erlaubt aber, dass die modernen Staaten, Im Gegensatz zur Kirche, wirklichen Bedürfnissen dienen. Aber das ist auch nicht ausreichend und nun setzt er hinzu, dass „die Zeit kommt, wo Institute entstehen, um den gemeinsamen wahren Bedürfnissen aller Menschen zu dienen.” (476)
Die zu erwartenden neuen Institute sind allerdings nicht die Einrichtungen des demokratischen Staates. Nietzsche macht das im Aphorismus 472 von Menschlich Allzu Menschlich klar – allerdings noch nicht in den apokalyptischen Begriffen eines kommenden Nihilismus und auch nicht mit der späteren Vehemenz des Alles-Zermalmens.[7] Nietzsche spricht in diesem Aphorismus vom Staat, seiner moralischen Basis und seiner Entwicklung und er meint hier mit „Staat“ erst einmal den klassischen europäischen Staat des 17. und 18. Jahrhunderts und seine „absolute vormundschaftliche Regierung.” Dieser klassische Staat hat in neuerer Zeit der prekären Institution des demokratischen Staates Platz machen müssen. In Nietzsches Terminologie beziehen sich die Begriffe “Staat” und “demokratischer Staat” also auf spezifisch moderne Einrichtungen. Nietzsches Hauptthese ist, dass der demokratische Staat keine selbständige politische Ordnung darstellt sondern nur “die historische Form von Verfall des Staates”, d.h., des klassischen Staates, der ihm vorhergegangen ist.
Er erklärt sich den Übergang vom vormundschaftlichen zum demokratischen Staat durch den Verlust des Glaubens an Gott als höchstem Wert und als letzte Autorität und der daraus sich ergebenden Entleerung der Religion. Er schreibt also: “Das Interesse der vormundschaftlichen Regierung und der Religion gehen miteinander Hand in Hand, so dass, wenn letztere abzusterben beginnt, auch die Grundlage des Staates erschüttert wird.“ Insofern der Tod Gottes für den späten Nietzsche die Entwertung unserer höchsten Werte bedeutet und das Heraufkommen des Nihilismus, so stellen der Niedergang der vormundschaftlichen Herrschaft, die Entwicklung des demokratischen Staates, und der endliche Verfall und Tod des Staates Phasen in der Geschichte des Nihilismus dar. Dieser Gedanke ist allerdings in Menschlich Allzu Menschlich noch nicht herausgearbeitet.
Die Annahme, dass die Autorität der Regierung göttlichen Ursprungs ist (und sein muss) gehört in der Tat zum Selbstverständnis des modernen absolutistischen Staates. Religion ist nötig, so sagt Nietzsche zynisch, um die Massen mit den “allgemeinen, unvermeidlichen und zunächst unabwendbaren Übeln“ zu versöhnen, die der Staat nicht beheben kann. Auch da, wo “die notwendigen oder zufälligen Mängel der Staatregierung oder die gefährlichen Konsequenzen dynastischer Interessen“ bemerkbar werden.
Der Verfall der Religion führt daher natürlicherweise zum Verfall des absoluten Staates. Der wird endlich vom demokratischen Staat verdrängt, der, so Nietzsche, eine „ganz verschiedene Auffassung des Begriffs der Regierung“ mit sich bringt. Die moderne Demokratie versteht sich nämlich „als Werkzeug des Volkswillens“ und als “Funktion des alleinigen Souveräns, des Volkes.“ Volksmeinungen werden in dieser Regierungsform „bis in ihre Vertreter hineinklingen müssen” Der demokratische Staat, so verstanden, bedeutet letztlich „die Entfesselung der Privatperson“. Insgesamt, vertritt dieser Staat also die modernen Ideen der Volkssouveränität, der politischen Gleichheit, der repräsentativen Regierungsform, und des liberalen Individualismus. Genau dieser Staat ist nun, nach Nietzsches Meinung, wesentlich unstabil. Er spricht daher von drei Phasen im Niedergang des modernen Staates: er spricht von der Missachtung, dem Verfall, und schließlich dem Tod des Staates. Dieser Prozess, so schreibt er, ist “die Konsequenz des demokratischen Staatsbegriffs” und, in der Tat, „seine Mission.“
5.
Die Privatisierung der Religion markiert den ersten Schritt im Verfall des Staates. Diese Entwicklung wird zunächst durch die Aufsplitterung der christlichen Kirche in der Reformation befördert. Danach kommt der Augenblick in der Zeit der Aufklärung, wenn die herrschende Klasse sich über die Religion überlegen zu fühlen beginnt. Sobald diese Haltung sich verbreitet, wird “eine Benutzung und Ausbeutung der religiösen Triebkräfte und Tröstungen zu staatlichen Zwecken“ nicht mehr so leicht möglich sein und die Privatisierung der Religion ist auf dem Weg.
Während wir heute diesen Prozess als entschiedenen Fortschritt in der Entwicklung der individuellen Freiheit sehen und so in der Rechten des Individuums, ist Nietzsche viel weniger optimistisch. Die erste Konsequenz dieses Prozesses ist für ihn, “dass das religiöse Empfinden verstärkt erscheint.“ Frei von politischen Beschränkungen kann das religiöse Gefühle jetzt nach neuen Ausdrucksformen suchen, die „bis ins Extreme ausschweifen“, sodass am Ende „die Religion durch Sekten überwuchert wird.“ Es stellt sich damit heraus, „dass eine Fülle von Drachenzähnen in dem Augenblick gesät worden ist, als man die Religion zur Privatsache machte.“ Bestätigung für Nietzsches Mutmaßung können wir in den Wogen religiöser Erweckung finden, die seit dem 19. Jahrhundert immer wieder über Europa und Amerika gebrochen sind und in der Vervielfältigung von Glaubensbekenntnissen in derselben Periode vom Mormonismus, zu den Altkatholiken, dem bizarren Panorama evangelisch-fundamentalistischer Kirchen und Mini-Kirchen, und einer Unzahl anderer spiritueller Bewegungen. Besonders erschreckend ist in dieser Beziehung die Entwicklung der katholischen Kirche von einer öffentlichen Institution mit universalem Anspruch zu einem engen Sektierertum.[8]
Nietzsche sagt auch vorher, – was ebenfalls von unserer eigenen Erfahrung bestätigt wird – dass die Intensivierung religiöser Gefühle eine Reaktion hervorruft, in der „jeder Bessere und Begabtere“ die Irreligiosität zu seiner Sache macht, die sich manchmal wieder in „eine fast fanatische Begeisterung für den Staat“ konsolidiert, indem in manchen Kreisen „die Gemüter seit der Trennung von der Religion eine Leere spüren und sich vorläufig durch die Hingebung an den Staat einen Ersatz, eine Art von Ausfüllung zu schaffen suchen.“ Das Resultat dieser Entwicklung ist, dass die Maßnahmen des Staates oft einen „religionsfeindlichen Charakter“ annehmen. Und das wandelt nun die Stimmung der religiösen Menschen “welche früher den Staat als etwas halb oder ganz Heiliges adorierten, in eine entschieden staatsfeindliche um.“ Auch diese Dialektik ist uns aus der Geschichte des letzten Jahrhunderts her bekannt wo fundamentalistisches Sektierertum, Irreligiosität, Feindschaft des Staates gegen die Religion, Feindschaft der Religion gegen den Staat, und extreme Verehrung des Staates hart im Raum aufeinandergestoßen sind.
The Geschichte des klassischen und des demokratischen Staates ist für Nietzsche die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen einer religiösen und einer anti-religiösen Front, deren Endresultat keineswegs vorhersehbar ist. Er bietet uns so eine Alternative zu Max Webers Auffassung an, nach der wir in einem unaufhaltbaren Säkulisierungsprozess begriffen sind. Es ist nach Nietzsche natürlich möglich, dass die anti-religiöse Parteien sich durchsetzen und „die Fortpflanzung ihrer [religiösen] Gegnerschaft … etwa durch Schule und Erziehung untergraben, und endlich unmöglich machen“. Aber er hält es auch für möglich, dass der Streit der beiden Parteien in einem neuen religiösen Despotismus endet “vielleicht weniger aufgeklärt und ängstlicher als früher“. Der Disput mag auch auf die Dauer entscheidungslos bleiben. Auch diese drei Alternativen sind uns aus der Gegenwart her bekannt, indem einige Staaten sich zu einem streng-klerikalen Regime zurückverwandelt haben (Iran), während andere eine bewusst säkularistische Politik verfolgen (insbesondere China aber auch einige nord-europäischen Staaten) und noch andere, wie die Vereinigten Staaten, in einem fortwährenden bösen Gefecht zwischen religiösen und anti-religiösen Parteien verwickelt sind.
6.
Nietzsche ist unsicher über das Ende dieser Entwicklung, aber er sich gewiss, dass im demokratischen Staat der Streit dieser Parteien zunehmend das Prinzip des dieses Staates freilegen wird. Das besteht in der unbedingten Verpflichtung zur Freiheit des Individuums. Wenn das endlich offenbar wird, dann werden die Einzelnen den Staat nur noch respektieren, „wo er ihnen nützlich oder schädlich werden kann“ und sie werden dann alle Mitteln in Bewegung setzen, um auf diesen Staat Einfluss zu erlangen. Genauso wie Platon in seiner Politeia, schließt Nietzsche, dass das Verlangen nach politischer Selbstbestimmung zum Schluss auf eine unkontrollierbare Selbstsucht hinausläuft und dass dies wiederum zu einem gnadenlosen politischen Konkurrenzkampf führen muss. Er schreibt:
Aber diese Konkurrenz wird bald zu groß, die Menschen und Parteien
wechseln zu schnell, stürzen sich gegenseitig zu wild vom Berge
wieder herab, nachdem sie kaum oben angelangt sind. Es fehlt allen
Maßregeln, welche von einer Regierung durchgesetzt werden, die
Bürgschaft ihrer Dauer; man scheut vor Unternehmen zurück, welche auf
Jahrzehnte, Jahrhunderte hinaus ein stilles Wachstum haben müssten, um
reife Früchte zu zeitigen. Niemand fühlt eine andere Verpflichtung gegen
ein Gesetz mehr als die, sich augenblicklich der Gewalt, welche ein Gesetz
hat, zu beugen: sofort geht man daran, es durch eine neue Gewalt, eine
neu zu bildende Majorität zu unterminieren.
Hier ist es wieder leicht, im Parteienkampf der Gegenwart Aspekte zu erkennen, auf welche diese Charakterisierung passt.
Nietzsche fährt fort, dass an diesem Punkt ein vollständiges “Misstrauen gegen alles Regierende” sich entwickelt und schließlich damit auch ein Entschluss “zur Abschaffung des Staates, zur Aufhebung des Gegensatzes ‘privat und öffentlich‘.“ Wenn der Staat nur noch von privaten Interessen regiert wird, dann werden seine Funktionen zunehmend von denen in die Hand genommen, denen es nur ums private Profitmachen geht. Nietzsche schreibt: “Die Privatgesellschaften ziehen Schritt vor Schritt die Staatsgeschäfte in sich hinein: selbst der zäheste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens übrigbleibt (jene Tätigkeit zum Beispiel, welche die Privaten gegen die Privaten sicher stellen soll), wird zu allerletzt einmal durch Privatunternehmer besorgt werden.“ Noch einmal werden wir an unsere eigene politische Wirklichkeit erinnert mit ihren privaten Sicherheitsfirmen, ihren privaten Armee, privaten Gefängnissen, und der totalen Privatisierung von Diensten, die einmal vom Staat geleistet worden sind. Wir sehen vielleicht auch noch klarer als Nietzsche, wie diese Entwicklung im Namen der individuellen Freiheit, und insbesondere der Marktfreiheit, zugleich die demokratischen Einrichtungen, die im Namen genau dieser Freiheit gegründet sind, aus ihrem eigenen Prinzip heraus unterminiert.
7.
Nietzsche ist überzeugt, dass der Prozess erst in der Auflösung der gesamten politischen Ordnung sein Ende finden wird und dass sich an diesem Punkt “ein neues Blatt im Fabelbuch der Menschheit entrollt, auf dem man allerlei seltsame Historien … lesen wird.“ Aber er sehnt sich keineswegs nach diesem Tag. Vielmehr setzt er sein Vertrauen, entsprechend der vorsichtigen Haltung, die er in Menschlich Allzu Menschlich pflegt, in die Klugheit und den Eigennutz der Menschen, „dass jetzt noch der Staat eine gute Weile bestehen bleibt und zerstörerische Versuche übereifriger und voreiliger Halbwisser abgewiesen werden.“
Zugleich denkt er aber darüber nach, was nach dem Ende des Staates kommen könnte. Und hier ist er sich gewiss: in dieser Situation „wird am wenigsten das Chaos eintreten.“ Stattdessen, wird sich eine neue politische Ordnung entwickeln. „Eine noch zweckmäßigere Erfindung als der Staat es war, [wird] zum Siege über den Staat kommen“. Denn der Staat, wie wir ihn kennen, ist nur eine spezifische geschichtliche Konstruktion und als solche kontingent. Nietzsche erinnert uns an dieser Stelle an die Existenz anderer und früher Formen von politischer Ordnung wie „zum Beispiel die der Geschlechtsgenossenschaft, [die] Jahrtausende lang viel mächtiger war als die Gewalt der Familie, ja längst, bevor diese bestand, schon waltete und ordnete.“ Später kam dann der Rechts- und Machtgedanke der Familie „welcher einmal, soweit wie römisches Wesen reichte, die Herrschaft besaß“, der seit dem aber immer „blasser und ohnmächtiger“ geworden ist. Nietzsche nimmt an, dass zumindest auf einigen Teile der Erde eines Tages der Staat auch bedeutungslos werden wird – „eine Vorstellung, an welche viele Menschen der Gegenwart kaum ohne Angst und Abscheu denken können.“
8.
Er ist sich allerdings über zwei Dinge klar. Zum ersten, dass man aktiv an der Abschaffung der Nationen arbeiten muss. Der europäische Nationalismus ist für ihn Anathema und die Ursache vieler politischer Übel. Er zögert darum nicht, sich selbst als einen “guten Europäer” zu bezeichnen, und nicht als Deutschen und er wird damit zum ersten europäischen Philosophen, der sich so sieht. Die europäischen Einigung ist nach ihm unvermeidbar: “Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Kultur, das schnelle Wechseln von Haus und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer – diese Umstände bringen notwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich.“ (475)
Zugleich wird es dann auch zu einer Mischrasse kommen “die des europäischen Menschen”. Dieser Prozess wird zugleich, so hofft er, das notorische Problem des Antisemitismus lösen. „Das ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden“. Nietzsche gibt uns an dieser Stelle eine enthusiastische Bewertung der Juden die “nicht ohne unser aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern” gehabt haben. Wir müssen den Juden für den edelsten Menschen, Christus, den reinsten Weisen, Spinoza, und “das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt“ danken. Jüdische Freidenker, Gelehrte, und Ärzte hielten zudem in der dunkelsten Periode des Mittelalters “das Banner der Aufklärung und der geistigen Unabhängigkeit” hoch, sie erhielten unser Band mit der griechisch-römischen Antike, und machten es so möglich, „dass eine natürlichere, vernunftmäßigere und jedenfalls unmythische Erklärung der Welt endlich wieder zum Siege kommen konnte“. (475)
Seine Hoffnungen waren, so wissen wir heute, zu optimistisch. Europa macht es sich noch immer schwer mit seiner Vereinigung; der europäische Nationalismus blüht weiter; die Schaffung eines europäischen Menschen hat kaum begonnen. Was wir als Europäische Union besitzen ist hauptsächlich ein Geschäftsunternehmen; es gibt kaum eine philosophische Vision Europas; Nietzsche hat wenige Nachfolger gefunden in seinem Bemühen, ein guter Europäer zu sein. Der Antisemitismus grassiert noch immer; der Fehlschlag der Europäer ihn zu überwinden hat zudem einen neuen jüdischen Nationalismus befördert mit all den Lasten und Gefahren eines jeglichen Nationalismus. Die Juden haben damit – zum Verlust aller Seiten – die Chance verloren, als wesentliches Bindeglied in einer neuen europäischen Kultur zur fungieren. Nietzsches wichtiger Versuch einer philosophischen Erfassung des Judentums ist zu gefährlich geworden, um Nachfolger zu finden. Die Europäer haben dazu noch neue Formen von Diskriminierung gegen neue Minoritäten erfunden. Nietzsches große Vision der Zukunft Europas wartet bis heute auf ihre Verwirklichung und vielleicht ist sie schon überholt im Zuge einer vielläufigeren Globalisierung. Dennoch besteht ein Bedarf für Europa ein eigenständiges Bewusstsein zu bilden, wenn es in der globalen Welt präsent sein will. In jedem Fall ist klar, dass weder die Europäische Union noch eine globalisierte Welt ein Staat in klassischen Sinne sein wird. Und während historische Staatsformen weiterbestehen, hat sich ihre Machtstellung, Funktion, und Bedeutung inzwischen soweit verändert, dass wir Nietzsches Vorhersage des Ende des klassischen Staates zustimmen müssen.
9.
Ich habe mich bis jetzt nur mit ein, zwei Aphorismen aus Nietzsches “Blick auf den Staat” befasst. Eine umfassendere Beschäftigung mit dem gesamten Abschnitt bestätigt wohl das bisher Gesagte, wirft aber zugleich ein neues Licht auf den Abstand von Nietzsche politischem Denken in Menschlich allzu Menschlich zu den acht Jahre späteren Gedanken in Jenseits von Gut und Böse und Der Wille zur Macht.
Nietzsche beginnt seinen “Blick auf den Staat” mit einer Kritik des demokratischen Staatswesens. “Alles ist verloren”, so zitiert er Voltaire, “wenn das Volk sich am Nachdenken beteiligt“. Und das geschieht im demokratischen Staat, dem es darum geht, “möglichst vielen das Leben erträglich zu machen”. Die Menschen wollen in einem solchen Staat „nun einmal ihres Glücks und Unglücks eigene Schmiede sein“. Dagegen ist nichts einzuwenden, so lange als „die Beschränktheit nicht so weit geht, zu verlangen, es solle alles in diesem Sinne zu Politik werden, es solle jeder nach solchem Maßstabe leben.“ Einigen wenigen muss zumindest erlaubt sein, sich von dieser Art Politik fernzuhalten und “ein wenig beiseitezutreten”. Diese wenigen werden „das Glück der Vielen, verstehe man darunter Völker oder Bevölkerungsschichten, nicht so wichtig nehmen“. Denn sie wissen, dass jede höhere Kultur nur durch eine Unterscheidung von Kasten und von Rangunterschieden möglich wird.
Nietzsche ist sich gewiss, dass jede stabile politische Ordnung solche Rangunterschiede braucht. In der klassischen Form des Staates behandeln die Menschen ihre Prinzen, als ob sie Götter oder jedenfalls Repräsentanten Gottes wären. (440) “Überall, wo man sich bestrebt einzelnen Menschen in das Übermenschliche hinaufzuheben, entsteht auch die Neigung, ganze Schichten des Volkes roher und niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind“. (461) Prinzenherrschaft und Klassenteilung gehen so Hand in Hand. Solche Rangunterscheidungen produzieren einen Willen zur Subordination “welche im Militär- und Beamtenstaat so hoch geschätzt wird“. Im demokratischen Staat aber fehlt diese Bereitschaft zur Unterordnung. “Sie muss verschwinden, denn ihr Fundament schwindet: der Glaube an die unbedingte Autorität, an die endgültige Wahrheit“. In einer freieren, d.h. mehr egalitären und mehr demokratischen Gesellschaft “ordnet man sich nur auf Bedingungen unter, infolge gegenseitigen Vertrages, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes“. Aber “wenn diese Subordination nicht mehr möglich ist, lässt sich eine Menge der erstaunlichsten Wirkungen nicht mehr erreichen”. (441) Nietzsche ist sich daher gewiss, dass unsere politische Ordnung zerfallen wird “wie es alle früheren Ordnungen getan haben, sobald die Sonnen neuer Meinungen mit neuer Glut über die Menschen hinleuchteten“. (443) Allerdings kann man diesen Zerfall nur wünschen, wenn man Hoffnung hat und die ist gewöhnlich nur “eine Anmaßung, eine Überschätzung“.
10.
Es ist nach Nietzsche nicht nur der Staat, der unterminiert wird, wenn der Sinn für Unterordnung verschwindet. Hohe Kultur wird dann auch unmöglich. Mit diesem Thema eröffnet er eine ganz neue Dimension seines Arguments. Das wird am klarsten im letzten Aphorismus seines “Blicks auf den Staat” ausgedrückt. Es ist auch in diesem Aphorismus wo Nietzsche zum ersten Mal von einer großen Politik spricht – allerdings, wie sich herausstellt, erst einmal in einem negativen Sinn, und noch nicht mit der positiven Bedeutung, die der Terminus für ihn in den achtziger Jahren erhalten wird.
Der Ausdruck „große Politik” war keineswegs Nietzsches Erfindung. Er hatte ihn vielmehr von der politischen Rhetorik seiner Zeit geborgt. Etwas nach Nietzsche gebrauchte der politische Kommentator Theodor Schiemann, zum Beispiel, den Ausdruck in einer Übersicht über die politische Lage in Deutschland. “Große Politik” ist für ihn eine Politik, die sich mit “den großen Problemen der Weltpolitik” befasst; sie ist eine Politik “großen Mächte” und ihrer „Interessen“; eine Politik ihrer Machtentwicklung und Machtbeziehungen. In Schiemanns Mund ist große Politik vor allem Außenpolitik, im Gegensatz zur kleinlichen Innenpolitik.[9]
Es ist in diesem Sinne, dass Nietzsche den Terminus in Menschlich Allzu Menschlich gebraucht. Die große Politik, von der er dort spricht, ist die Politik von Einzelstaaten, die alles „der groben und buntschillernden Blume der Nation“ zum Opfer bringen. (481) In Verfolgung ihrer nationalen Ehre suchen sie, “unter den mächtigsten Staaten sich eine entscheidende Stimme zu sichern” und sie zögern nicht, ihre besten Männer auf dem „Altar des Vaterlandes“ aufzuopfern. Diese Art von großer Politik ist, nach Nietzsche, charakteristisch nicht nur für den frühmodernen klassischen sondern auch und insbesondere für den modernen demokratischen Staat, der sich nicht vor „der Vergeudung von Menschen der höchsten Zivilisation“ in seinen Volksarmeen scheut. (442)
Der Nietzsche von Menschlich Allzu Menschlich fühlt tiefste Abneigung gegen diese Sorte von Politik. Offensichtlich noch unter dem Eindruck des Krieges von 1870/71 und mit direktem Bezug auf Preußen-Deutschland und Frankreich als den kriegsführenden Mächten schreibt er im Aphorismus 444: „Zuungunsten des Krieges kann man sagen: er macht den Sieger dumm, den Besiegten boshaft.“ Krieg macht die Menschen mehr barbarisch und sie finden sich dann in einer “Schlafs- und Winterzeit“ der Kultur. Es gibt aber eine “ganz andere und höhere Aufgabe” in der Kultur als die von Vaterland und Ehre. Und „der grobe Römer-Patriotismus ist jetzt … entweder etwas ganz Unehrliches oder ein Zeichen der Zurückgebliebenheit.“ (442)
Diese These spitzt Nietzsche endlich im Aphorismus 481 zu, wo er argumentiert, dass der größte Kosten einer Politik der nationalen Ehren darin besteht, dass “die tüchtigsten, kräftigsten, arbeitsamsten Männer …. ihren eigentlichen Beschäftigungen und Berufen entzogen werden”. (481) Das Ergebnis ist fast notwendigerweise “eine geistige Verarmung und Ermattung, eine geringere Leistungsfähigkeit zu Werken, welche große Konzentration und Einseitigkeit verlangen“. Es ergibt sich also ein scharfer Antagonismus zwischen Politik und Kultur. Selbst die griechische Polis war, so schreibt Nietzsche, “misstrauisch gegen das Wachstum der Bildung; ihr gewaltiger Grundtrieb zeigte sich fast nur lähmend und hemmend für dieselbe“. (474) Die Behauptung des Pericles, dass es eine natürliche Verbindung von athenischer Kultur und der athenischen Polis gebe, ist nichts als “ein großes optimistisches Trugbild.” In Wirklichkeit hat sich die Bildung „trotz der Polis“ entwickelt. Anstatt eine große neue Politik zu zelebrieren, sollten wir realisieren das die Kultur “das allerhöchste den politisch schwächsten Zeiten” verdankt und dass ein Volk sich gewöhnlich nur „auf dem politischen Krankenbette verjüngt“ und seinen Geist wiederfindet. (465)
Wir können uns damit wieder zum späteren Nietzsche wenden und seiner ganz anderen Wertung der großen Politik. Wo der Nietzsche von Menschlich Allzu Menschlich einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen Politik und Kultur postuliert hatte, erkennt der von Jenseits von Gut und Böse die Möglichkeit ihrer Versöhnung. Diese Politik sollte das Werk außerordentlicher Menschen sein die neue Werte, neue Wertordnungen und Hierarchien schaffen, nicht das der Tagespolitiker. Sie sollte eine neue europäische Kulturpolitik sein, nicht die Machtpolitik der alten europäischen Nationalstaaten; die Politik eines neuen geeinten Europas und eine Politik großer Künstler, die Politik und Kultur zugleich betreiben, nicht die sinnlose, rohe, barbarische Politik des Krieges.
11.
Wir sehen damit, dass Nietzsche sich sowohl von einem konservativen Glauben an den Staat wie von der anarchistischen Zurückweisung aller Politik distanziert. Er steuert dagegen einen Mittelkurs zwischen der Kritik des Staates und der Kritik der Politik an und tut dies im Namen einer neu zu konzipierenden Form von Politik außerhalb und jenseits des Staates. In dieser Beziehung nimmt er Tendenzen des politischen Denkens vorweg, die im zwanzigsten Jahrhundert von Schmitt, Arendt, und Foucault verfolgt worden sind. Ganz im Sinne Nietzsches geht es bei diesen Denkern um einen neuen Begriff von Politik. Das heißt aber nicht, dass sie sich Nietzsche weitere Überlegungen, wie diese neue Politik aussehen sollte, zu eigen gemacht haben. Denn die haben sich inzwischen als unrealistisch, unüberzeugend und unschmackhaft erwiesen. Ob die Versuche von Schmitt, Arendt, und Foucault Politik neu zu bestimmen erfolgreicher sind, bleibt allerdings noch zu fragen.
Anmerkungen
[1] Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 208.
[2] Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885 bis Herbst 1886, Werke, herausgegeben von Giorgio Colli und Massimo Montinari, achte Abteilung, Band 1, Walter de Gruyter: Berlin 1974, S. 86. Der Satz ist in Nietzsches Der Wille zu Macht, 960 reproduziert.
[3] Loc. cit.
[4] Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, 1.
[5] Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral p. 118
[6] Platon, Staat, 557-558, übersetzt von Otto Apelt.
[7] Die folgenden Zitate sind alle dem Aphorismus 472 entnommen.
[8] David Berger, Der heilige Schein, 2010.
[9] Theodor Schiemann, Deutschland und die große Politik anno 1901, Georg Reimer, Berlin 1902, p. iii. Von 1922 an erscheint eine Sammlung von Dokumenten aus dem Deutschen Außenministerium unter dem Titel Die große Politik der Europäischen Kabinette. 1871-1914, hgg., von Johannes Lepsius u. a., Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin, vol. 1, 1922. Es ist mir allerdings nicht gelungen, die genaue Herkunft des Terminus zu bestimmen.