Wie Frege zu Sinn und Bedeutung kam
Hans Sluga
(Frege Konferenz, Wismar, Mai 2013)
Im Jahre 1892 veröffentlichte Gottlob Frege seinen Aufsatz “Über Sinn und Bedeutung” im 100. Band der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Er ist bis heute seine meist gelesene, meist übersetzte, und auch am meisten wiedergedruckte Arbeit. Der Aufsatz nimmt insbesondere in der englischsprachigen philosophischen Literatur eine wichtige Stellung ein. Der ursprüngliche Anstoß dazu kam von Bertrand, der 1903 in einem Anhang zu seinen Principles of Mathematics Freges Gesamtwerk ausführlich besprach und dabei auch seine Unterscheidung von Sinn und Bedeutung unter die Lupe nahm. Zwei Jahre später unterzog Russell in seinem Aufsatz „On Denoting“ Freges Bedeutungstheorie noch einmal einer kritischen Analyse und legte dabei seine eigene Alternative zu dieser Theorie vor. Auch in Ludwig Wittgenstein Tractatus und ebenso in seinen Philosophischen Untersuchungen finden sich immer wieder Hinweise auf Freges Bedeutungstheorie. Im Jahre 1948, 56 Jahre nach der ursprünglichen Veröffentlichung, erschien der Aufsatz „Über Sinn und Bedeutung“ dann als erster ins Englische übertragener Text Freges in der renommierten amerikanischen Zeitschrift Philosophical Review.[1] Die Übersetzung stammte von Max Black, der eng mit Wittgenstein liiert war und auf dessen Inspiration diese Übersetzung möglicherweise zurückgeht. Im folgenden Jahr erschien gleich eine zweite englische Übersetzung von Herbert Feigl in dem Sammelband Readings in Philosophical Analysis.[2] Feigl stand wiederum Rudolf Carnap nahe und schloss sich terminologisch an Carnaps Diskussion von Freges Aufsatz in seinem 1947 erschienenen Buch Meaning and Necessity an. Inzwischen ist die Literatur zu Freges Aufsatz fast unübersehbar geworden.
Das fortdauernde Interesse an Freges Aufsatz ist allerdings verständlich, denn er behandelt eine Reihe von wichtigen und originellen Themen.
- ein Rätsel: Warum sind manche Identitätssätze trivial aber andere informativ? Während „Der Morgenstern ist der Morgenstern“ ein trivialer und, in der Tat, analytisch wahrer und sogar logisch wahrer Satz ist, drückt „Der Morgenstern ist der Abendstern“ eine empirische Erkenntnis aus.
- eine einfache Erklärung: Wir müssen zwei verschiedene Komponenten in unserem umgangssprachlichen Bedeutungsbegriff unterscheiden, die Frege respektive “Sinn” und “Bedeutung” nennt. Die Ausdrücke „der Morgenstern“ und „der Abendstern“ haben zwar dieselbe Bedeutung (sie sind beide Bezeichnungen für den Planeten Venus) aber nicht denselben Sinn. Ein Identitätssatz von der Form „A = B“ ist analytisch wahr und daher trivial, wenn die beiden Ausdrücke „A“ und „B“ denselben Sinn haben; er ist wahr, wenn sie beiden dieselbe Bedeutung haben; er ist nicht analytisch und nicht-logisch wahr, wenn sie zwar dieselbe Bedeutung aber verschiedenen Sinn haben.
- eine gewagte Annahme: Frege wendet seine Unterscheidung von Sinn und Bedeutung auf Sätze an und kommt dabei zu dem Schluss, dass alle wahren Sätze dieselbe Bedeutung haben. Er nennt diese Bedeutung „das Wahre”; alle falschen Sätze bedeuten dagegen nach ihm „das Falsche“. Es scheint daraus zu folgen, dass ein Satz in jedem Satzzusammenhang durch einen anderen mit dem gleichen Wahrheitswert ersetzt werden kann, ohne die Bedeutung des Ganzen zu ändern.
- ein versuchter Nachweis: Zu dieser letzten Annahme gibt es aber Gegenbeispiele. Frege dabei weist auf „Nebensätze“ hin, die nicht ohne Bedeutungsānderung des ganzen Satzes miteinander ersetzt werden können. Zu diesen gehören insbesondere Sätze, die in ungerader Rede gebraucht werden. „Adam glaubt, dass der Morgenstern mit dem Morgenstern identisch ist“ mag wahr sein während „Adam glaubt, dass der Morgenstern mit dem Abendstern identisch ist“ falsch ist, obwohl die beiden Nebensätze den gleichen Wahrheitswert haben. Frege versucht nun seine Annahme rechtfertigen, indem er eine Übersicht über die verschiedene Arten der Einbettung von Nebensätzen gibt und zu zeigen versucht, dass er alle mit seiner Annahme in Übereinstimmung bringen kann. Er schließt: „Hieraus geht wohl mit hinreichender Wahrscheinlichkeit hervor, dass die Fälle, wo ein Nebensatz durch einen anderen desselben Wahrheitswertes ersetzbar sind, nichts gegen unsere Ansicht beweisen, der Wahrheitswert sei die Bedeutung des Satzes, dessen Sinn ein Gedanke ist.“[3]
- eine überraschende Schlussfolgerung: Dieser Nachweis gelingt ihm aber nur dadurch, dass er annimmt, dass Sätze in ungerader Rede ihre Bedeutung wechseln; ihr normaler Sinn funktioniert in diesem Falle als ihre Bedeutung.
Jedes dieser Themen ist noch heute von philosophischem Interesse. Freges Rätsel („Frege’s puzzle“, wie es in englischsprachigen Veröffentlichungen heißt) beschäftigt noch immer die philosophische Literatur. Dabei geht es um zweierlei: erstens, die Frage, wie das Rätsel zu lösen sei; zweitens darum, wie Freges Darstellung dieses Rätsels zu verstehen sei. Freges Semantik von Sinn und Bedeutung ist zwar umstritten, gilt aber bis heute als eine der paradigmatischen Formen der Bedeutungstheorie. Sie bleibt dabei auch von historischem Interesse durch ihre enge Beziehung zu den alternativen Bedeutungs-Konzeptionen, die von Russell und Wittgenstein entwickelt worden sind. Bis heute umstritten ist Freges Versuch, Wort- und Satzsemantik zu vereinheitlichen. Während Frege glaubt, seine These, dass Sätze Wahrheitswerte bedeuten, nur als wahrscheinlich erweisen zu können, hat es in der neueren Literatur verschiedentliche Versuche gegeben, einen strikten Beweis für diese These zu konstruieren. Die zustande gekommenen „sling-shot“ Argumente sind auch weiterhin in der Diskussion. Schließlich besteht auch noch heute großes Interesse an Freges Überlegungen zu Sätzen in ungerader Rede und insbesondere in modalen und intentionalen Kontexten. Der Aufsatz „Über Sinn und Bedeutung“ ist in jeder dieser Beziehungen von fortdauernder philosophischer Relevanz. Es ist nicht erstaunlich, dass viele Leser nur diese eine Arbeit Freges kennen. Frege gilt für sie daher vornehmlich als ein Sprachphilosoph und Bedeutungstheoretiker.
Das ist allerdings eine Fehlinterpretation. Frege hat auch über Sprache und Bedeutung nachgedacht. Aber seine diesbezüglichen Überlegungen haben einen breiteren Zusammenhang. Denn der Aufsatz “Über Sinn und Bedeutung” gehört zu einer Reihe von Schriften um 1891-92, in denen Frege seine ursprünglichen Überlegungen zur Logik, wie er sie in seiner Begriffsschrift von 1879 dargestellt hatte, substantiell modifizierte und erweiterte. „Über Sinn und Bedeutung“ muss als organischer Bestandteil von Freges Gesamtwerk verstanden werden. Dieses Gesamtwerk hat Frege dem Wissenschaftshistoriker Ludwig Darmstaedter noch ganz spät in den folgenden Worten beschrieben:
“Von der Mathematik ging ich aus. In dieser Wissenschaft schien mir die dringlichste Aufgabe einer besseren Grundlegung zu bestehen… Bei solchen Untersuchungen war die logische Unvollkommenheit der Sprache hinderlich. Ich suchte Abhilfe in meiner Begriffsschrift. So kam ich von der Mathematik zur Logik. Das Eigenartige meiner Auffassung der Logik wird zunächst dadurch kenntlich, dass ich den Inhalt des Wortes ‘Wahr’ an die Spitze stelle… Ich gehe also nicht von den Begriffen aus und setze aus ihnen den Gedanken oder das Urteil zusammen, sondern ich gewinne die Gedankenteile durch Zerfällung des Gedankens.”[4]
Wir können diese Bemerkungen mit dem Vorwort von Freges Begriffsschrift von 1879 zusammenstellen. Aus beiden Texten geht hervor, dass Frege sich Zeit seines Lebens vornehmlich als ein Philosoph der Mathematik betrachtete, dass es ihm zeitlebens um die Grundlegung der Mathematik ging. Dabei nahm er von der Zeit der Begriffsschrift bis ungefähr 1915 an, dass die Arithmetik im leibnizschen Sinne eine erweiterte Logik sei. Diese Annahme hatte ihn in der Begriffsschrift zu Ausarbeitung seiner neuen Logik bewogen. Durch diese Arbeit sah er sich aber auch gezwungen, bedeutungstheoretische Überlegungen anzustellen. Diese stellen also, historisch betrachtet, nur einen Baustein in Freges Werk dar.
“Über Sinn und Bedeutung” entstand in einer Zeit ungewöhnlicher wissenschaftlicher Produktivität in Freges Leben. Zu keiner anderen Zeit hat Frege so viele Arbeiten auf einmal geschrieben und veröffentlicht.
“Über das Trägheitsgesetz” (Rezension, 1891)
Funktion und Begriff (1891)
“Über Sinn und Bedeutung” (1892)
“Über Begriff und Gegenstand” (1892)
“Georg Cantor, Zur Lehre vom Transfiniten” (Rezension, 1892)
“Anmerkungen zu Sinn und Bedeutung” (um 1892, unveröffentlicht)
Wir müssen uns fragen: Was ist die Stellung von “Über Sinn und Bedeutung” in Bezug auf diese anderen Arbeiten? Dabei erweist sich, dass Freges Hauptarbeit in dieser Periode die Monographie Funktion und Gegenstand ist und dass alle anderen Arbeiten dieser Periode Ableger oder Beiprodukte dieser Monographie sind. Das gilt auch für den Aufsatz “Über Sinn und Bedeutung.” Er muss also mit Bezug auf Funktion und Begriff gelesen werden.
Freges Funktion und Begriff war das Resultat langjähriger Überlegungen. Es war ihm daher wichtig, dass die Arbeit als separate Monographie und nicht nur als Zeitschriftenaufsatz erschien. Er hatte allerdings Schwierigkeit, einen Verleger zu finden. Anfang 1891 verhandelte er mit dem Breslauer Verleger Wilhelm Koebner. Die Monographie erschien dann endlich by H. Pohle in Jena. Zuvor hatte sich Frege allerdings schon an den ihm von Jena her als Kollegen bekannten Herausgeber der Zeitschrift für Philosophie gewandt. Er hatte Richard Falckenberg im Juni 1890 vorgeschlagen, einen Aufsatz zum Thema Sinn und Bedeutung zu schreiben – d.h. zu einem Teil der Thematik, die ihn auch in Funktion und Begriff beschäftigte hatte. Falckenbergs Antwort deutet an, dass Frege zu diesem Zeitpunkt den Aufsatz „Über Sinn und Bedeutung“ erst konzipiert hatte. Er antwortete auf Freges Angebot: “Die Logische Abhandlung über Sinn und Bedeutung nehme ich, wenn sie nicht gar zu umfangreich ausfällt, gern und mit Freuden an.”[5] “Über Sinn und Bedeutung” war also das Resultat einer relativ kurzfristigen Arbeit. Die Zeitschrift für Philosophie war dabei kaum ein ideales Medium für die Veröffentlichung von Freges neuen logischen Einsichten. Sie war hauptsächlich philosophiehistorischen Themen aus dem Umkreis des deutschen Idealismus gewidmet. Freges Aufsatz stellte daher ein Unikum in der Zeitschrift dar und blieb zunächst einmal ohne philosophisches Echo. Er ist eigentlich erst durch seine Rezeption in der englischsprachigen Philosophie und durch seine Bedeutung für Wittgenstein und Carnap bekannt geworden.
Im Gegensatz zu dem Aufsatz „Über Sinn und Bedeutung“, der sich nur mit eine Facette von Freges neuen Überlegungen zur Logik befasste, beschäftigt sich die Monographie Funktion und Begriff Freges Gesamtprogramm. In ihr geht es (so schreibt Frege im Vorwort) um “die grundlegenden Definitionen der Arithmetik” und “Beweise” und wie sie in der Begriffsschrift ausgedrückt werden können.[6] Dazu sind allerdings “einige Ergänzungen und neue Fassungen” in der Begriffsschrift, i.e., Freges Logik, nötig, wie es im ersten Paragraphen der Arbeit heißt. Und diese verlangen wiederum. dass man in genauer Weise “Form und Inhalt, Zeichen und Bezeichnetes” unterscheidet.[7]
Was trägt “Über Sinn und Bedeutung” nun genau zu der Diskussion in Funktion und Gegenstand bei? Am folgenreichsten ist sicher die ausführliche Erörterung der These, dass Sätze Wahrheitswerte bedeuten. Diese These hatte Frege zunächst in Funktion und Gegenstand aufgestellt; er hat sie aber dann erst in “Über Sinn und Bedeutung” detailliert dargelegt und verteidigt. Die These erlaubte ihm, Begriffe als Wahrheitsfunktionen aufzufassen, und sie vereinheitlichte so seine gesamte Logik in einer Funktionstheorie. Schon in Begriffsschrift hatte er den Begriff der Funktion als grundlegend für seine neue Logik bezeichnet, aber es war erst mit der Einführung der Wahrheitsfunktionen, dass er diese Behauptung konkretisieren konnte. Die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung erlaubte Frege, zweitens, zu rechtfertigen, dass er seine Logik als eine rein extensionale Theorie konzipierte (und daher auch keine Modallogik brauchte). Nach Frege spricht die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung (für Begriffswörter) “sehr zugunsten der Logiker des Umfangs.”[8] Frege konnte nun, drittens, auch argumentieren, dass sowohl der Sinn von Sätzen wie ihre Bedeutung “objektiv” sind. Er konnte Logik so als eine objektive Wissenschaft verstehen, was ihm in seiner Auseinandersetzung mit dem modernen Psychologismus ein wichtiges Anliegen war. Wesentlich war ihm hier das Bemühen von “Über Sinn und Bedeutung” zwischen subjektiven Vorstellungen und objektivem Sinn zu unterscheiden. “Objektivität” hieß ihm dabei so viel als “intersubjektive Zugänglichkeit.” Von entscheidender Wichtigkeit war ihm aber schließlich, viertens, dass die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung ihm erlaubte seine ursprüngliche Auffassung von Identitätssätzen zu modifizieren.
Frege hatte seine Begriffsschrift von 1879 auf der Basis der Leibnizschen Konzeption einer Lingua Characterica konstruiert. Er hatte dabei auch Teile seiner frühen Bedeutungstheorie von Leibniz übernommen und dies wird insbesondere in seinen Bemerkungen über den Identitätsbegriff deutlich. Frege schreibt bekanntermaßen in seiner Begriffsschrift: „Die Inhaltsgleichheit unterscheidet sich dadurch von der Bedingtheit und Verneinung, dass sie sich auf Namen, nicht auf Inhalte, bezieht.”[9] Bei Leibniz heißt es nun ganz ähnlich aber in einer etwas zweideutigen Formulierung: “Wenn da A und B sind und A geht in irgendeinen wahren Satz ein und, indem man darin an irgendeiner Stelle für A B einsetzt, ein neuer Satz entsteht und dieser ebenso wahr ist… sagt man, A und B seien dieselben.”[10] Um zwischen analytischen und synthetischen Identitätsurteilen zu unterscheiden, differenziert Frege in der Begriffsschrift zwischen dem Inhalt eines Zeichens und seiner “Bestimmungsweise”. In Bezug auf informative Identitätssätze schreibt er: “Hieraus geht hervor, dass die verschiedenen Namen für denselben Inhalt nicht immer blos eine gleichgiltige Formsache sind, sondern dass sie das Wesen der Sache selbst betreffen, wenn sie mit verschiedenen Bestimmungsweisen zusammenhängen.”[11] Leibniz erklärt nun im gleichen Sinne in seinem “Dialog über die Verbindung zwischen Dingen und Worten”: “Es besteht unter den Zeichen, besonders wenn sie gut gewählt sind, eine Beziehung oder Ordnung, die einer Ordnung in den Dingen entspricht… Denn wenngleich die Charaktere also solche willkürlich sind, so kommt dennoch in ihrer Anwendung und Verknüpfung etwas zur Geltung was nicht mehr willkürlich ist.”[12] Während die Bedeutungen von “lux” und “fero”, zum Beispiel, willkürlich sind, gilt dies nicht mehr für “lucifer.”
Nach Freges Begriffsschrift ist ein wahrer Identitätssatz „A = B“ nun im kantischen Sinne synthetisch, wenn die beiden Namen “A” und “B” mit verschiedenen Bestimmungsweisen zusammenhängen; das heißt, wenn “A” und “B” aus verschiedenen Einzelnamen und/oder in verschiedener Weise konstruiert sind. Daraus folgt nun aber, dass arithmetische Gleichungen von der Form „A = B“ nur dann analytische Wahrheiten ausdrücken, wenn „A“ und „B“ mit derselben Bestimmungsweise zusammenhängen. Und das bedeutet nun, dass die meisten arithmetischen Gleichungen nur höchstens synthetisch a priori im kantischen Sinne sein können. Damit wäre natürlich Freges These widerlegt, dass Arithmetik eine erweiterte Logik sei. Das Leibnizsche Programm einer Zurückführung der Arithmetik auf Logik wäre damit zunichte gemacht. Frege müsste sich in seiner versuchten Grundlegung der Mathematik auf eine kantische Position oder gar eine empiristische zurückziehen.
Um seine logizistischen These aufrecht zu erhalten, sah sich Frege nach 1884 gezwungen, ein neues Axiom seiner Begriffschrift von 1879 hinzu zufügen. Wir können diese Axiom (Freges „Grundgesetz V“) so formulieren:
έ (fε) = ά (gα) = (a) ( fa = ga).
Dieses Axiom wäre aber nun nach der Identitätstheorie der Begriffschrift “im kantischen Sinne selbst ein synthetisches Urteil und also keine logische Wahrheit.
In Funktion und Begriff suchte Frege diese Konsequenz nun zu umgehen, indem er eine Unterscheidung von Sinn und Bedeutung einführte. Er behauptete demgemāss, dass in der Gleichung
έ (ε2 – 4ε) = ά (α (α – 4)) = x2 – 4x = x (x -4))
die beiden Teilformeln
έ (ε2 – 4ε) = ά (α (α – 4)) = x2 – 4x = x (x -4))
“denselben Sinn” ausdrücken “aber in anderer Weise.” Aber die Gleichung
έ (ε2 – 4ε) = ά (α (α – 4)) = x2 – 4x = x (x-4)
ist nur ein Spezialfall von Grundgesetz V
έ (fε) = ά (gα) = (a) ( fa = ga)
Nach Frege müssen die beiden Teilformeln von Grundgesetz V
έ (fε) = ά (gα) und (a) ( fa = ga)
nicht nur die gleiche Bedeutung haben – anders wäre die Gleichung falsch; sie müssen auch denselben Sinn haben, wenn Grundgesetz V logisch wahr sein soll. Grundgesetz V
έ (fε) = ά (gα) = (a) ( fa = ga)
stellt nun die Umwandlung einer Äquivalenzbeziehung in eine Identitätsbeziehung dar. Die beiden Seiten von V drücken nach Frege denselben Gedanken aus (aber bestimmen ihn in verschiedener Weise). Grundgesetz V ist also eine logische Wahrheit.
Um seine logizistische These zu retten, musste Frege also seine neue Identitätstheorie konstruieren. Diese Konzeption erläuterte er nun auf den ersten Seiten von “Über Sinn und Bedeutung”. Er erklärte den neuen “Sinn” Begriff dadurch, dass er zwischen dem von einem Zeichen Bezeichneten und der “Art des Gegebenseins des Bezeichneten” unterschied. Diese Unterscheidung ist aber wesentlich kantischen Ursprungs. Das paradoxe Resultat war also, dass Frege von einer ursprünglich von Leibniz inspirierten Bedeutungs- und Identitätstheorie auf eine von Kant inspirierte umwechselte, um seine wiederum von Leibniz inspirierte und gegen Kant gerichtete logizistische Konzeption der Arithmetik aufrecht zu erhalten. Aber das war noch nicht das Ende der Geschichte. 1902 entdeckte Frege auf Russells Hinweis hin, dass sein Grundgesetz V unhaltbar war, weil es die Ableitung von mengentheoretischen Widersprüchen erlaubte. Nach Versuchen, das Axiom zu modifizieren, gab Frege schließlich den gesamten Versuch auf, die Arithmetik von seiner Logik abzuleiten. Er kehrte nun zu der von ihm lange abgewiesenen Auffassung Kants zurück, nach der die arithmetischen Gleichungen synthetisch a priori sind. Sein spätes Fragment über die „Erkenntnisquellen der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften“ zeigt, wie stark er sich am Ende den Annahmen der Kantischen Philosophie angeschlossen hat. Wir können also insgesamt eine Entwicklung Freges von einer wesentlich an Leibniz orientierten Position zu einer an Kant orientierten feststellen.
Dies beeinflusste auch die Weise, wie er in späten Jahren seine Theorie von Sinn und Bedeutung beurteilte. Während diese Theorie zu Anfang ganz im Dienst seiner logizistischen Grundlegung der Arithmetik gestanden hatte, betrachtete er sie in seinen letzten Jahren zunehmend als ein unabhängiges Ergebnis seiner Forschung – wie er auch Ludwig Darmstaedter klar zu machen versuchte. Frege selbst bahnte so die Bewertung seines Aufsatzes „Über Sinn und Bedeutung“ an, die sich heute durchgesetzt hat. Freges Logizismus hat jetzt nur noch wenige Anhänger; seine Aussagen- und Prädikatenlogik sind zum großen Teil in die heutige Praxis der Logik integriert. Als philosophisch diskussionswert bleibt also hauptsächlich nur Freges Bedeutungstheorie.
Anmerkungen
[1] Gottlob Frege, “Sense and Reference” Philosophical Review, Bd. 57, 148, S. 207-230.
[2] Gottlob Frege, “On Sense and Nominatum”, Re4adings in Philosophical Analysis, hgg. Von Herbert Feigl and Wilfred Sellars, Appleton-Century-Crofts, New York 1949, S. 85-102.
[3] Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, Kleine Schriften, hgg. Von Igancio Angelleli, Georg Olms, Hildesheim 1967, S. 162
[4][4] Gottlob Frege, “Aufzeichnungen für Ludwig Darmstaedter“, Nachgelassene Schriften, hgg von Hans Hermes u.a., Felix Meiner, Hamburg 1969, S 273
[5] Gottlob Frege, Wissenschaftlicher Briefwechsel, hgg. V. Gottfried Gabriel, u.a., Felix Meiner, Hamburg 1976, S. 48.
[6] „Funktion und Begriff“, Kleine Schriften, loc. cit., S. 125
[7] Ebda., S. 126
[8] “Anmerkungen über Sinn und Bedeutung”, Nachgelassene Schriften, loc. cit, S. 128
[9] Gottlob Frege, Begriffsschrift und andere Aufsätze, 2. Auflage, hgg. Von Igancio Angelelli, Georg Olms, Hildesheim 1964, S. 13
[10] Gottfried Wilhelm Leibniz, Fragmente zur Logik, hgg. und übersetzt von Franz Schmidt, Akademie Verlag, Berlin 1960, S. 315.
[11] Begriffsschrift, loc. cit., S. 15
[12] G. W. Leibniz, “Dialog ueber die Verknuepfung zwischen Dingen und Worten,” Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hgg. von Ernst Cassirer, übersetzt von A. Buchenau, , Felix Meiner, Leipzig 1924, Bd. , S. 19 und 20.