Heidegger und Oskar Becker
Vom Dasein zum Dawesen
Hans Sluga
(Veröffentlich in Heidegger-Handbuch, Stuttgart 2013)
Oskar Becker und Martin Heidegger – beide 1889 geboren – standen sich lebenslang persönlich und philosophisch nahe. In frühen Jahren waren sie zu gleicher Zeit Schüler Edmund Husserls in Freiburg und dienten zusammen als seine Assistenten. Husserl betrachtete die zwei gelegentlich sogar als seine beiden designierten Nachfolger. Becker, wie Husserl von zuhause aus Mathematiker, sollte dabei helfen, Mathematik und Naturwissenschaften phänomenologisch zu unterbauen, während Heidegger dazu bestimmt war, die phänomenologischen Grundlagen der historischen Geisteswissenschaften zu erarbeiten. Im Phänomenologischen Jahrbuch von 1927 stellte Husserl dementsprechend Beckers große Arbeit über die Grundlagen der Arithmetik, Mathematische Existenz, mit Heideggers Sein und Zeit zusammen.
Zu diesem Zeitpunkt wandelten Becker und Heidegger allerdings bereits auf eigenen Wegen. In einer früheren Abhandlung zu den Grundlagen der Geometrie (Jahrbuch für Phänomenologie, 1923) hatte Becker sich zwar noch ganz mit Husserl identifiziert, in Mathematische Existenz berief er sich aber hauptsächlich auf Heidegger. In seinen Vorbemerkungen zu diesem Werk lesen wir dem entsprechend: “Es wird in dieser Arbeit weitgehend außer der natürlich gerade bei mathematischen Gegenständlichkeiten zunächst grundlegenden Methoden der formalen transzendental-konstitutiven Phänomenologie… die von Heidegger begründete Forschungsweise der hermeneutischen Phänomenologie verwandt“. (S. 442) Es ginge darum, so schrieb er, “die ‘mathematische Existenz’ in den Zusammenhang menschlichen Daseins hineinzustellen, der als der allenthalben grundlegende Interpretationszusammenhang zu sehen ist.” (S. 442) Mit Blick auf den damals dominierenden mathematischen Formalismus fragte sich Becker “welche Weise des Sorgens und der Bedeutsamkeit” sich in ihm verberge. (S. 628) Und er antwortete, dass dieser nur „um den unbegrenzten Fortgang des Deduzierens“ besorgt sei und so, in der Sprache Heideggers, eine “Abriegelung des Lebens gegen sich selbst” und ein Abgleiten der Mathematik ins Uneigentliche darstelle. Die Ontologie der mathematischen Gegenstände müsse stattdessen von einem anthropologischen Standpunkt her entwickelt werden und müsse damit eine “Hermeneutik der Faktizität” im Sinne Heideggers sein. Ein besseres philosophisches Verständnis der Grundlagen der Mathematik sei in dieser Richtung von L. E. J. Brouwers Intuitionismus vorgezeichnet worden. Im Namen Husserls und Heideggers wurde Becker so (zusammen mit Hermann Weyl) ein bedeutender deutscher Exponent des mathematischen Intuitionismus,
Beckers Überlegungen bezogen sich vor allem auf Heideggers Vorlesungen und Seminare vor 1927 und nur in wenigen Fußnoten auf Sein und Zeit. Aus Heideggers frühem Ideenkreis übernahm er dabei zwei Annahmen. Zum ersten, dass das menschliche Dasein seinem Wesen nach zeitlich ist. Später schrieb er in diesem Sinne noch: “Die Zeit ist nicht nur die Form des inneren Sinnes, sondern die Grundstruktur des menschlichen Daseins überhaupt… Unsere Existenz selbst lässt sich als Zeitlichkeit charakterisieren. Die Zeit ist keine bloße Form, die uns umgibt, sondern durchdringt ganz und gar unser Sein und Wesen. Das zeigt sich auch – so oft es auch verkannt wird – in der Mathematik… Wir können und müssen nur deshalb zählen und rechnen, weil wir zeitliche und endliche Wesen sind. Ein ewiges, unendliches Wesen zählt nicht“. (Größe und Grenze der mathematischen Denkweise, 158) Zum zweiten nahm Becker in Mathematische Existenz auch an, dass die Welt im Sinne Heideggers nur historisch-hermeneutisch zu verstehen sei. Er betonte dabei drei Heideggersche Gedankenmomente als wesentlich für die Mathematik, nämlich: die Endlichkeit der menschlichen Zeiterfahrung, das projektive Vorlaufen in die Zukunft, und die Einmaligkeit des historischen Ereignisses. Das Unendliche manifestiere sich, so Becker, nur dadurch, dass wir projizierend eine potentiell offene, d.h. potentiell unendliche Reihe von Gedankenschritten oder Reflexionsstufen durchlaufen können. Es sei aber wichtig, mit Heidegger zwischen Naturzeit und historischer Zeit zu unterscheiden. Die Naturzeit könne allein die Idee einer nach Regeln fortschreitenden Reihe rechtfertigen und somit nur den Begriff einer abzählbaren Unendlichkeit. Die intuitionistische Konstruktion der reellen Zahlen und des Kontinuums mit Hilfe frei werdender Wahlfolgen könne dagegen nur aus dem Begriff der historischer Zeit verstanden werden, denn “frei werden – das kann nur der Geist, das historische Dasein.” (S. 669)
Heideggers historisch-hermeneutisches Denken – oder jedenfalls, was Becker solcher Maßen betrachtete – sollte bedeutenden Einfluss auf seine breit angesetzten Studien zur Geschichte der Mathematik und Logik ausüben. Für Becker blieb es unbezweifelbar, dass die geschichtliche Entwicklung dieser Wissenschaften für das Verständnis dieser Wissenschaften entscheidend ist. Zugleich brachte die Beschäftigung mit dieser Geschichte ihn aber auch dazu, seine Haltung zu Heideggers historisch-hermeneutischem Denken zu modifizieren. Er kam dabei endlich zu dem Schluss, dass „die historisch Denkweise und die hermeneutische Methode“ in Bezug auf „das spezifisch Naturhafte“ versagen. In Größe und Grenze der mathematischen Denkweise fügte er hinzu: „Und gerade dort, wo das auslegende, ‚hermeneutische‘ Verfahren scheitert, da führt die mathematische Denkweise weiter. Mathematisches und hermeneutisches Denken stehen also in einem merkwürdigen Verhältnis der Komplementarität…. Die Gebiete der Mathematik und Geschichte schränken sich gegenseitig ein.“ (S. 169-170)
Die Grenzen von Heideggers historisch-hermeneutischem Denken waren Becker allerdings schon Jahrzehnte früher aufgegangen – aber nicht zuerst in der Mathematik sondern im Bereich der Ästhetik. Das wird aus einem Aufsatz mit dem bemerkenswerten Titel „Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers“ offenbar, den er 1929 in der Husserl Festschrift veröffentlichte. In dieser Arbeit versucht Becker, eine „Ontologie des Ästhetischen“ zu entwickeln, und erwägt dabei zunächst die Möglichkeit, dies mit Hilfe der „existentialen Analytik des Daseins“ Heideggers zu unternehmen. Er fragt sich aber schon bald, ob das historisch-hermeneutische Denken für die ästhetische Problematik zureichend ist. „Ist das Ästhetische ein rein geschichtliches Phänomen? Kann des Schicksal des künstlerischen ‘Geistes’, das ganz eigentümliche Verhängnis des Genies von der ‘geworfenen Möglichkeit’ und der ‚gewesenden Zukunft aus verstanden werden?“ (DD, S. 31) Becker verneint diese Fragen mit Hilfe von Überlegungen, die sich auf Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Georg Lukacs, und vor allem auf Schelling berufen. „Die Grundthese Schellings“, schreibt er, ist „dass das Kunstwerk eine Synthese von Natur und ‚Freiheit‘ (d.h. Geschichtlichkeit bzw. Geist), die Identität einer bewussten und ‚bewusstlosen‘ (d.h. unbewussten) Tätigkeit ist.“ (DD, S. 23) Der Künstler ist also dadurch ausgezeichnet, „dass in ihm das Naturhafte und das Geschichtlich-Geistige, das ‚Bewusste‘ und das ‚Bewusstlose, ‘ sich völlig durchdringen.“ (DD, 35) Später würde er dem hinzufügen, dass Heideggers Feststellung in Sein und Zeit, die Natur sei „ontologisch-kategorial verstanden ein Grenzfall des Seins von möglichem inner-weltlichem Seienden“ und könne vom Dasein daher nur ‚“in einem bestimmten Modus seines In-der-Weltseins“ entdeckt werden, das Eigenwesen der Natur im Dunkel lasse. („Para-Existenz“, DD, S. 85) Die Spannung, in welcher der Künstler steht, kann nach Becker jedenfalls nicht rein historisch-hermeneutisch erfasst werden und bedarf „einer neuen existentialen Kategorie“, die wir auch als “Quasi– oder als Para-Existential“ bezeichnen können.
Becker wollte mit diesen Bemerkungen von 1929 auf eine wesentliche Lücke in Heideggers Denken aufmerksam machen. Während Sein und Zeit sich mit einer Vielfalt von Themen befasst, hat das Werk überhaupt nichts über die Natur der Kunst zu sagen. Nach Becker war diese Lücke aber kein Zufall sondern das Resultat einer unzureichenden Ontologie, die alles aus einem historisch-hermeneutischen Blickwinkel verstehen will. Dieser Einwurf war unzweifelhat gewichtig. Wir dürfen in der Tat annehmen, dass Heidegger sich erst durch diese kritischen Einwürfe veranlasst sah, über Kunst, Künstler, und Kunstwerk nachzudenken. Beckers Kritik hat in dieser Weise, wie es scheint, ganz wesentlich zu Heideggers Entwicklung beigetragen und darf insbesondere als der eigentliche Anlass zur Abfassung von Heideggers ‚Der Ursprung des Kunstwerks‘ betrachtet werden. Es ist jedenfall bemerkenswert, dass Heidegger in diesem Aufsatz Becker zustimmt, dass die Kategorien von Sein und Zeit ungenügend waren, um das Wesen des Kunstwerks und das Werk des Künstlers in den Griff zu bekommen. In „Para-Existenz“ erkannte Becker wiederum an, dass Heideggers Unterscheidung von „Welt“ und „Erde“ in dieser Beziehung einen wichtigen Fortschritt darstelle; er bestand aber zugleich (ohne weiter Erklärung) darauf, dass seine eigenen Überlegungen „doch in wesentlichen Punkten, wie es scheint, in eine andere Richtung“ gingen. (DD, S. 92, Fußnote 2)
Becker hatte inzwischen nämlich seine eigene Alternative zu Heideggers “Fundamentalontologie” formuliert – eine “Parontologie”, der es um das Phänomen der “Paraexistenz“ geht. Becker wollte nun zeigen, dass der Heideggersche Begriff des menschlichen Daseins durch den eines menschlichen Dawesens zu ergänzen sei. „Der Mensch ist nicht bloß daseiend, sondern auch dawesend“, schrieb er in seinem programmatischen Aufsatz „Para-Existenz“ mit kritischen Hinweis auf Heideggers fehlendem Blick für das leiblich-biologische Sein des Menschen. „Der Mensch existiert nicht bloß geistig und geschichtlich, sondern ist auch leibhaft anwesend oder gegenwärtig in unmittelbarer Gegenwart (παρουσία, praesentia). Beides, das geistig-seelische ‚Dasein‘ und die leibhafte Anwesenheit des Menschen, sind Urphänomene im Sinne Goethes.“ (DD, S. 69) Becker ging es in diesem Sinne darum wie Schelling, neben die Philosophie der Geschichte und des menschlichen geschichtlichen Seins eine eigentlich und unabhängige Philosophie der Natur zu stellen. Nur so, glaubte er, liesse sich das Anliegen der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften richtig verstehen.
In seiner Spätphilosophie sah sich Becker allerdings veranlasst, selbst über diesen paraontologischen Standpunkt noch einmal hinauszugehen. Das Problem des Ästhetischen, so schrieb er in seinem späten Aufsatz „Von der Abenteuerlichkeit des Künstlers und der vorsichtigen Verwegenheit des Philosophen“ vom Jahre 1958, „kann nämlich weder mit ontologischen noch mit paraontologischen Begriffen, weder mit Existentialien noch mit Paraexistentialien allein erklärt werden. … Dabei muss ein Standpunkt eingenommen werden, der Ontologie und Parontologie gleichermaßen überschreitet und der deshalb als hyperontologisch zu bezeichnen ist.“ (DD, S. 107) Während Becker noch einmal den Unterschied zwischen Heideggers Sein und seinem eigenen Begriff des Wesen betonte, charakterisierte er den Menschen jetzt als ein „exzentrisches“ Wesen, das die Natur nur als eine „dunkle Mutter“ und mit einer „Leidenschaft zur Nacht“ lieben kann. „Die Fragwürdigkeit des Philosophen ist also die, dass er über Dinge zu reden gezwungen ist, von denen er eigentlich nicht reden kann.“ (DD, 120) Beckers Denken trifft sich hier überraschend mit dem des späten Heidegger. Gewiss ist es kein Zufall, dass er sich in seinen letzten Seminaren so ausführlich mit Heideggers Satz vom Grund befasst hat und mit dessen Idee des Abgrunds (des „Achéron“, den es zu überqueren gilt, wie Becker sagt, DD, SS. 103, 124-126) als Grund des Seins, als Grund auch des Gedichts und damit der Kunst, und als Grund nicht zuletzt sowohl von Heideggers Dasein wie von Beckers Dawesen.
Literatur
Oskar Becker, Mathematische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontologie mathematische Phänomene, in Jahrbuch für Phänomenologie und phänomenologische Forschung, Bd. 8, halle 1927, 439-809 – Ders., „Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers“, Festschrift, Edmund Husserl zum 70. Geburtstag gewidmet. Ergänzungsband zum Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung, Halle 1929. (zit. nach Dasein und Dawesen) – Ders., „Para-Existenz. Menschliches Dasein und Dawesen“, Blätter für Deutsche Philosophie, Bd. 17, 1943, 62-95 (zit. nach Dasein und Dawesen) – Ders. „Von der Abenteuerlichkeit des Künstlers und der vorsichtigen Verwegenheit des Philosophen“, in Gerhard Funke (Hg.), Konkrete Vernunft. Festschrift f ür Erich Rothacker, Bonn 1958 (zit. nach Dasein und Dawesen) – Ders. Größe und Grenze der mathematischen Denkweise, Freiburg/München 1958 – Ders., Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophische Aufsätze, Pfullingen 1963 – Otto Pöggeler, „Oskar Becker als Philosoph,“ Kantstudien, Bd. 60, 1969, 298-311 – Ders., „Hermeneutische und mantische Philosophie“, in: ders. (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werks, Köln-Berlin 1969, 321-357.