Der erkenntnistheoretische Anarchismus
Paul Feyerabend in Berkeley
Hans Sluga
(Veröffentlich in Paul Feyerabend. Ein Philosoph aus Wien, 2005)
Als ich in den frühen siebziger Jahren nach Berkeley kam, da stand Paul Feyerabend gerade auf dem Höhepunkt seiner akademischen Popularität. Jedes Semester waren bei ihm viele hunderte von Studenten eingeschrieben. Bald fand ich allerdings heraus, daß er jedem Studenten schon in der ersten Vorlesungsstunde eine Eins für den Kursus versprach. Er fügte dabei noch hinzu, daß es bei ihm natürlich keinerlei Prüfungen oder Hausarbeiten gäbe. Man bekam seine Eins selbst in der Tat, ohne jemals in der Vorlesung gewesen zu sein. Die Einschreibung im Kursus allein genügte. So etwas hatte sich bald auf dem Campus herumgesprochen und wurde insbesondere in unserer Sportabteilung den Studenten zugeflüstert. Als Resultat waren zum Schluss Dutzende von Fussballspielern und andere Berufssportlern in Feyerabends Kursus eingetragen, um auf diese Art schnell und billig ihren akademischen Notendurchschnitt zu verbessern. Ich erinnere mich auch noch an den Augenblick, an dem unsere Universitätsverwaltung von dieser Sache Wind bekam und Feyerabend zwang, zumindest eine Abschlussprüfung für seinen Kursus abzuhalten. Im nächsten Semester händigte Feyerabend den Studenten zu Beginn der Prüfungsstunde ein Blatt aus, auf dem in grossen Buchstaben feierlich das Wort “Abschlussprüfung” stand und darunter hieß es einfach: “Erzähle mir deinen Lieblingswitz.” Jeder Witz, auch selbst der dümmste, wurde dann mit der Note Eins belohnt. Natürlich hat unsere Verwaltung auch diesem Verfahren bald ein Ende gemacht.
Feyerabend wusste wohl, daß viele Studenten überhaupt kein Interesse am Inhalt seiner Vorlesungen hatten und sich nur wegen der einfach zu erhaltenden Einsen bei ihm einschrieben. Er hatte aber seine Gründe für dieses unkonventionelle Vorgehen, wie er mir damals erklärte, und einer davon war erstaunlich konservativen Ursprungs. Er glaubte nämlich zutiefst an das alte Humboldtsche Erziehungsideal der akademischen Freiheit. Diese Einstellung kam auch immer wieder in unserer Fakultätsversammlung zum Ausdruck, wo Feyerabend zur Konsternation meiner Kollegen vehement gegen jede Regulierung des Studienganges argumentierte. Es war allen klar, daß er wenig Sympathie für das verschulte amerikanischen Universitätssystem mit seinen fortwährenden Prüfungen, mit seiner Anhäufung von Noten, und seiner fetischistischen Anbetung des Notendurchschnitts hatte. Er selbst war in Österreich durch ein freies, Humboldtsches Studium gegangen und konnte sich nicht vorstellen, daß man auf andere Art zu unabhängigem Denken kommen könnte. Er war auch zutiefst überzeugt, wie er mir gegenüber immer wieder betonte, daß er es selbst ohne diese Freiheit nie zu etwas gebracht hätte und er wollte es daher auch den Studenten überlassen, ob und wann und wie sie studierten.
Diese Einstellung erklärt auch, warum er in seinen Vorlesungen so oft auf John Stuart Mills Aufsatz Über die Freiheit zu sprechen kam. Mit Mill glaubte er nämlich nicht nur an die überragende Bedeutung der individuellen Freiheit sondern auch an den unabdingbaren Wert einer freien Gesellschaft. Von diesem Einfluss leitet sich auch der Titel von Feyerabends späteren Buch über Die Wissenschaft in einer freien Gesellschaft her, in dem er argumentierte, daß auch die Wissenschaften nach ihrem Beitrag zur Bildung und Bewahrung einer freien Gesellschaft beurteilt werden müssen. Mill verteidigte nun ein solches Freiheitsverständnis in seinem Aufsatz wiederum mit Hilfe des Humboldtschen Menschenbegriffs. Nach Humboldt braucht der Mensch Freiheit zur Selbstformierung. Humboldt sah menschliche Individualität also als einen unbedingten Wert an, “as being of intrinsic value,” wie Mill zustimmend sagte. Feyerabend interessierte sich nun in seinen Vorlesungen wie auch in seinen Schriften insbesondere für die erkenntnistheoretischen Folgerungen, die Mill aus diesem Humboldtschen Weltbild zog. Mill hatte in diesem Zusammenhange im ersten Kapitel seiner Abhandlung geschrieben, daß wir andere Überzeugungen tolerieren sollten, erstens weil wir uns nie der eigenen hundertprozentig gewiss sein können und zum zweiten weil wir sie erst dadurch richtig verstehen, daß wir sie mit anderen, gegensätzlichen Überzeugungen konfrontieren. Erst im Wechselspiel zwischen verschiedenen Ansichten erhalten unseren eigenen Ansichten, wie Mill es sah, ihr eigentliches, individuelles Profil. Dies war für ihn aber nun selbst wieder eine Konsequenz des Humboldtschen Menschenbegriffs. Ebenso wie menschliche Individualität nur im freien Zwischenspiel zwischen Menschen zustande komme, so argumentierte er, könne die Bestimmtheit unserer Überzeugungen nur im freien Wechselspiel verschiedener Überzeugungen erreicht werden. Feyerabend sprach damals von Mills “wahrhaft humanitärer Verteidigung” dieser Auffassung. (1975. p. 48)
Ich glaube, daß Feyerabends Abhängigkeit von Humboldt und Mill, also den zwei Begründern des modern Liberalismus, nicht nur für seine erkenntnistheoretischen Überlegungen sonden ebenso für seine politischen und sozialen Ansichten bedeutsam war. Insgesamt waren diese nämlich liberal oder selbst liberalistisch, voluntaristisch, und individualistisch ausgerichtet. Das machte er 1978 in Science in a Free Society klar, wo er von der “freien Gesellschaft” als einer Gesellschaft sprach, “in der alle Traditionen gleiche Rechte haben und gleichen Zugang zu den Machtzentren” (1978, S. 9) und als einer Gesellschaft, die sich entwickelt “wenn Menschen, die Einzelprobleme im Geiste der Zusammenarbeit lösen, schützende Strukturen schaffen.” (1978, S. 30) Da auch die Wissenschaft dieser freien Gesellschaft dienen soll, müssen wir uns immer wieder fragen, ob sie “die Seelen unbeschädigt lässt.” (1978, S. 84) oder ob sie Schranken errichtet gegen das, “was Menschen hätten sein können”, ob sie “unsere Humanität vermindert” oder es uns erlaubt “frei zu sein”. (1970, S. 91) Man muss hinzufügen, daß Feyerabend wenig tat, um diese hier genanntent moralischen und politischen Begriffe auszufüllen, aber man darf nicht im Zweifel sein, daß sie allesamt liberalen Ursprungs waren. Er wollte aber seine Auffassungen nicht unbedingt als solche gekennzeichnet sehen, denn der Liberalismus galt im akademischen Milieu der späten sechziger und frühen siebziger Jahre als die reaktionäre Ideologie der herrschenden Klasse, gegen die man damals in den Universitäten so verbissen kämpfte. Feyerabend schrieb 1970 also defensiv: “Viele Leute sind heute geneigt, Mill einen Liberalen zu nennen und ihn wegen der von ihnen wahrgenommenen Schwächen des liberalen Credos abzuweisen. Das ist etwas ungerecht, denn Mill ist sehr von dem verschieden, was wir heute ‘Liberalismus’ nennen. Er ist in vieler Hinsicht ein Radikaler. Selbst als Radikaler ragt er jedoch wegen seiner Rationalität und Humanität hervor.” (1970, p. 108) Radikalität, Rationalität (!) und Humanität sollten also die Schlagworte sein, nach denen sowohl die Gesellschaft wie auch die Wissenschaft beurteilt werden müssen.
Feyerabend ging nun allerdings schon 1970 weit über die liberale Position durch seine tiefe Skepsis gegenüber allen gesellschaftlichen Institutionen hinaus. Typisch ist, wenn er zu der Zeit schrieb, daß “alle lang anhaltende Stabilität … rein und einfach, ein Zeichen von Versagen ist.” (1970, S. 30) Auf Grund dieser Haltung hatte sich seine liberale Erziehungsphilosophie in dieser Periode, wie schon beschrieben, zu einer radikal antagonistischen Haltung gegen die akademischen Institutionen verschärft und zugleich hatte sich seine liberale, von Mill geprägte Erkenntnistheorie zu einem erkenntnistheoretischen Anarchismus fortentwickelt. Eine solche Fortbildung ist natürlich nicht ganz unerklärlich, weil der Anarchismus ja in gewisser Weise eine Radikalisierung des Liberalismus darstellt – und zwar eine linke Variante, im Gegensatz zu der rechten, die wir unter dem Namen “Libertarianismus” kennen. Dieser Anarchismus war nun in den frühen siebziger Jahren in akademischen Zirkeln weitverbreitet und er war die treibende Kraft hinter einer langen Reihe von akademischen Protestaktionen, die zwar oft verschiedene Anlässe hatten deren eigentliches Ziel es aber stets war, die bestehenden Institutionen zu unterminieren. Man erinnere sich, zum Beispiel, daran, wie die Tochter von Jacques Lacan, die zu der Zeit in Vincennes Philosophie unterrichtete, regelmäßig Diplome in Philosophie an die verdutzten Passagiere der Pariser Metro verteilte. Es war genau in dieser Epoche, so erinnere mich noch sehr deutlich, daß Feyerabend einmal ernsthaft auf einer Fakultätssitzung darlegte, wie wir einfach auf der Telegraph Avenue, wo die Studenten, Hippies, und alle möglichen kulturfeindlichen (countercultural) Elemente verkehrten, nach einem neuen Assistenzprofessor für unser Institut suchen sollten. Solche Worte machten ihn bei meinen älteren Kollegen zwar schnell unmöglich, brachten ihm aber auch, wenn sie kolportiert wurden, den Applaus unserer Studenten. Feyerabends subversives Vorgehen gegen die Strukturen und Anforderungen des amerikanischen Universitätssystems passte, in anderen Worten, genau in den historisch-politischen Zusammenhang der Periode und musste ihn unweigerlich zum Helden der ähnlich subversiv eingestellten Studenten machen.
Man sieht von diesen Einzelheiten auch, daß es Feyerabend in dieser Zeit in seinem Denken und vorzüglich in seinem Unterricht um viel mehr als Wissensschaftstheorie ging. In unserem Institut galt er er allerdings offiziell immer noch als Vertreter dieses philosophischen Spezialfaches, für das er ja in Berkeley eingestellt worden war. Aber wenn er jetzt in seinen Vorlesungen von den Naturwissenschaften und der Wissenschaftstheorie sprach, so tat er es in einer Weise und mit politischen und erzieherischen Intentionen, die meinen Kollegen absolut fremd waren. Feyerabend hatte daher bald keinen leichten Stand mehr in unserem Institut, aber das machte ihm, soweit ich sagen kann, garnichts aus. Er lachte vielmehr über die Situation und verspottete unsere Kollegen gelegentlich im privaten Gespräch. Die akademischen Philosophen, sagte er mir einmal im Scherz, sind wie Nagetiere. Sie nagen immer weiter am selben Material und man muss sie, wenn nötig, dazu zwingen, von dem alten, toten Holz abzulassen und sich neuen Dingen zuzuwenden.1970 fasste er seine pädagogischen Absichten in einem Satz von Michael Bakunin zuammen: “Lasst die Menschen sich emanzipieren und sie werden sich aus eigenem Antrieb selbst erziehen.” (1970, S. 19) Eine solche Erziehung zur Selbsterziehung sollte den Studenten nach Feyerabend “Daumenregeln, brauchbare Hinweise, und heuristische Vorschläge statt allgemeiner Gesetze” geben, wie er auch schrieb.
Und sie wird diese Hinweise und Vorschläge mit geschichtlichen
Episoden in Zusammenhang bringen, sodaß man im Einzelnen sehen
kann, wie manche davon manche Leute in manchen Situation zu
Erfolg gebracht haben. Sie wird die Vorstellungskraft des Studenten
entwickeln ohne ihn jedoch mit präzisen Vorschriften und Prozeduren
auszurüsten. Sie wird eher eine Sammlung von Geschichten sein als
eine Theorie im eigentlichen Sinne und sie wird ein gutes Stück
zielloses Geschwätz enthalten, aus dem sich jeder herausnehmen kann,
was zu seinen eigenen Absichten passt. (1970, S. 18-19)
Es waren genau diese philosophischen Voraussetzungen, die einerseits hinter Feyerabends Notenfreizügigkeit steckten und andererseits auch hinter seinem exzentrischen Verhalten gegenüber den Kollegen.
Eines seiner Ziele war dabei die Delegitimisierung des philosophischen Kanons, der philosophisch tolerierten Überzeugungen, und der akademisch geduldeten Theorien und Praktiken. Wenn er, zum Beispiel, mit seinen Studenten den platonischen Theaetet besprach, dann wollte er den protagoräisch-heraklitischen Relativismus gegen die platonische Überzeugnung von der Objektivität des Wissens verteidigen. Er wollte damit eine Aufwertung der Sophisten gegen Platon und das philosophische Establishment erreichen und zugleich den philosophischen Glauben an die Objektivität in Frage stellen. Es war auch diese subversive Haltung gegenüber der Tradition, und nicht nur die Notenfreiheit, die damals Studenten zu ihm lockte. Er wollte nämlich seine Studenten dazu bringen, auf radikal neuen Wegen zu denken und er wollte ihnen dabei auf den Weg helfen, indem er ihnen zeigte, daß es mehr als ein mögliches Denksystem gibt. Er gebrauchte zur Erläuterung dieses Punktes alle möglichen Illustrationen, wie zum Beispiel Bruno Snells Gegenüberstellung des frühgriechischen parataktischen Denkens und des späteren, logisch-philosophischen, und hypotaktischen Denkens. Er sprach in seinen Vorlesungen auch gerne vom Gegensatz, und in der Tat von der Inkommensurabilität des aristotelischen und des modernen physikalischen Weltbildes. Er sprach vom Gegensatz zwischen dem klassisch Newtonischen und dem relativistischen, quantumtheoretischen Bild der physikalischen Wirklichkeit. Un er sprach auch davon, daß es neben der wissenschaftlichen Weltbetrachtung vielerlei nichtwissenschaftliche Weltbilder gibt wie die Astrologie, der Zauber- und Aberglauben, und die vielen Weltansichten anderer Kulturen. Er interessierte sich in diesem Zusammenhang insbesondere für den anthropologischen Relativismus und das brachte ihn wiederum dazu, den Studenten in anregender Weise, zum Beispiel, von Ruth Benedicts Patterns of Culture und von Carlos Castanedas Teachings of Don Juan zu berichten. Er konnte jedenfalls, wie ich aus eigener Erfahrung weiss, von allen diesen Dingen in ungeheuer spannender Weise erzählen, denn er war aussergewöhnlich belesen und sprach frei und lebendig, indem er die Krücke, die er für das im Krieg lädierte Bein brauchte, als Lehrinstrument, Waffe und Zeigestock benutzte. Später schrieb er einmal von seiner Lehrpraxis: “Von 1958 an war ich Professor der Philosophie an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Meine Aufgabe war es, die Erziehungspolitik des kalifornischen Staates durchzuführen… Ich war mir aber kaum dieser Aufgabe bewusst und hätte sie auch nicht sehr ernst genommen, wenn ich informiert gewesen ware.” (1978, S. 118) Statt zu lehren “was nach dem Beschluss einer kleinen Gruppe weisser Intellektueller Wissen war,” hätte er den Studenten einfach erzählt, was er so gelernt hätte, wobei er das Material in einer Weise arrangiert hätte, die ihm “plausibel und interessant” erschienen sei.
Im Rückblick bin ich mir allerdings garnicht mehr so klar, ob diese Situation für Feyerabends pädagogisches Wirken gut gewesen ist. Es schien mir, zum Beispiel, fraglich, ob er die Gedankengänge seiner Studenten überhaupt kannte oder sich um sie kümmerte. So bestand er den Studenten gegenüber darauf, daß es überhaupt nicht auf Lesewissen ankommt, während er selbst ein dedizierter Leser war, der alles, von antiker Philosophie bis zu den Biographien von Marilyn Monroe und Muhammed Ali, verschlang. Er sah vielleicht garnicht, daß seine Studenten keinen Ansporn zum Nicht-lesen brauchten. Er sagte den Studenten auch, daß Hexerei genau so gut sei wie die Naturwissenschaft und die hörten dann nicht mehr, wie er hinzufügte, daß er selbst aus diesen und jenen Gründen mehr für Wissenschaft als für Hexerei übrig hätte.
Er verkündete den Studenten sein berühmtes “Anything goes!” machte ihnen aber nicht die von ihm selbst formulierten Qualifikationen diese Mottos klar. In dieser Periode der “Counterculture” waren Astrologie, Zauberei, andere Kulturen, Gedankenfreiheit, aber auch Aberglaube jeglicher Art nun einmal unter Studenten beliebt, und das akademische und philosophische Establishment mit seinen rationalen und wissenschaftlichen Überzeugungen und Anforderungen unbeliebt. Feyerabend wurde daher von vielen Studenten als ein Guru dieses neuen oppositionellen Denkens angesehen, was er vielleicht nicht bewusst wollte, was ihm aber auch andererseits keinewegs unbequem war. Dieses überhitzte und anarchische Klima brachte ihn nun dazu, seine ohnehin provozierenden Darlegungen immer weiter hochzuschrauben und mit jeder Wiederholung immer weiter zu vereinfachen und zu radikalisieren. In seiner Autobiographie beschreibt Feyerabend wie er zu dieser Zeit die Erstfassung und die etwas spätere Buchfassung von Wider den Methodenzwang geschrieben habe und zwar als “eine Kollage” seiner früheren Analysen und Überlegungen. “Ich arrangierte sie in einer angemessenen Weise, fügte Übergänge hinzu, ersetzte moderate Passagen durch mehr provozierende, und nannte das Resultat ‘Anarchismus’. Ich liebte es, die Menschen zu schockieren” (1995, S, 142) Feyerabend ist in gewisser Weise über seinen erkenntnistheoretischen Anarchismus, dieses Produkt seiner turbulenten Lehrzeit in Berkeley, nie hinausgekommen. Am Ende seines Lebens schrieb er: “Heutezutage bin ich überzeugt, daß dieser ‘Anarchismus’ mehr als Rhetorik ist…. Die Wissenschaftler haben immer in loser und etwas opportunistischer Weise in ihren Forschungen gehandelt … Es ist angenehm zu sehen, daß einige meiner Lehnstuhl Ideen von Gelehrten beibehalten werden, die in engem Kontakt mit der wissenschaftlichen Praxis arbeiten.” (1995, S. 142 u 151.) Das heißt aber nicht, daß sich Feyerabends Denken nach den siebziger Jahren nicht weiter entwickelt hat. So schreibt er in seiner Autobiographie, daß er den kulturtellen Relativismus der siebziger Jahre fallen gelassen hat, weil er inzwischen eingesehen habe, “daß jede Kultur potentiell alle Kulturen ist ist und daß die spezifischen kulturellen Eigenschaften die wechselnden Erscheinungen einer einzigen menschlichen Natur sind.” (1995, S. 152) Er erzählte mir später auch einmal, nachdem er seine neue Position an der ETH in Zürich angetreten hatte, daß er in Berkeley zum Schluss geistig hängen geblieben sei, weil er in jedem Semester neue und ziemlich unbelesene Studenten vor sich gehabt hätte denen er die selben alten Geschichten immer wieder hätte auftischen können. In Zürich, dagegen, so fügte er hinzu, säßen nun immer regelmäßig dieselben Studenten und sogar einige seiner Kollegen in seinem Seminar und da müsse er sich anstrengen, neues zu bieten. So sei er, zum Beispiel, auf das genauere Studium der Aristotelischen Physik gekommen und auf die Frage des Verhältnisses von Wissenschaft und Kunst in der Renaissance.
Die anarchischen Zustände im Berkeley der späten sechzige und frühen siebziger Jahre haben jedenfallls unzweifelhaft den Inhalt von Feyerabands Denken beeinflusst und sie liegen in der Tat, wie es scheint, auch der Entwicklung seines erkenntnistheoretischen Anarchismus zu Grunde. Feyerabends Denken wandelte sich jedenfalls in dieser Periode von einer wissenschaftstheoretisch-historischen Ausrichtung zu einer programmatisch-politischen. Als er sich in den sechziger Jahren mit dem Thema der wissenschaftlichen Methodik befasste, da wollte er nämlich anfangs nur zeigen, daß die übliche formal-logische Betrachtung dieser Frage zu nichts führt. Wenn die Wissenschaftstheorie rein formal von der Verifikation oder der Falsifikation oder der Bestätigung von Theorien durch die Erfahrung spricht, so waren das nach Feyerabend nur Leerformeln, die nichts über die wirkliche wissenschaftlichen Praxis aussagten. Er argumentierte dagegen, daß wissenschaftliche Methoden sich genauso wie die substantiellen wissenschaftlichen Theorien entwickeln und daß. Methoden und Theorien dabei in einer unmittelbaren Wechselbeziehung stehen. Neue Methoden machen neue Theorien möglich, während neue Theorien umgekehrt wiederum neue methodische Verfahren ermöglichen. Diese gegenseitige Abhängigkeit von Methode und Theorie ist allerdings keineswegs logisch determiniert, denn manchmal läuft die Methodik den Theorien voraus und manchmal hat die theoretische Arbeit einen Vorsprung vor der Methodik. Ich erinnere mich noch, wie Feyerabend in Vorlesungen in London in den späten sechziger Jahren diese gegenseitige Abhängigkeit von Theorien und Methoden mit eindringlichen Worten beschrieb. Er sprach damals unter anderem vom Verhältnis von Mathematik und empirischer Wissenschaft und wie die Mathematik manchmal formale Instrumente entwickele, die erst viel später in der empirischen Forschung Anwendung fänden, während bei anderen Gelegenheiten die empirische Forschung den Anstoß zur Entwicklung neuer mathematischer Verfahren gegeben habe.
Feyerabend erörterte in seinen Londoner Vorlesungen, wie so oft, auch die Entwicklung von der aristotelisch-scholastischen zur galileischen Physik. In Übereinstimmung mit Kuhn wollte er zeigen, daß es sich dabei nicht um eine kontinuerlichen Prozess gehandelt habe, der durch neue empirische Erfahrungen notwendig geworden worden wäre. Es ginge in dieser Geschichte vielmehr um einen Methodenwechsel oder, wie Kuhn es ausdrücke, einen Paradigmenwechsel. Die aristotelisch-scholastische Physik habe versucht, das zielbestimmte menschliche Handeln als Modell für alle Naturvorgänge anzusehen; in Galileo’s Physik sei dagegen die Methode der mathematische Beschreibbarkeit zur Herrschaft gekommen. Die aristotelisch-scholastische Methode hätte somit auch einen direkteren Bezug auf die menschliche Erfahrung gehabt als die neuzeitliche Wissenschaft. Das neue bei Galileo sei eben die platonisierende Ausrichtung auf die Mathematik gewesen und auf die formalen Instrumente, die sie zur Naturbewältigung zur Verfügung stellt. Allgemeiner gesprochen sei die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft also eine Wendung zu höherer Abstraktion und damit geradezu weg von der empirisch erfahrenen Welt gewesen. Feyerabend ging aber in diesen Darstellungen noch einen Schritt weiter, in dem er hinzufügte, daß Galileo selbst diese methodische Wende noch garnicht richtig verstanden hätte und daß er sie auch nicht hätte richtig begründen können und daß er in seiner Opposition gegen das aristotelische Weltbild opportunistisch alles zur Hand genommen hätte, was ihm methodisch nützlich gewsen sei. Feyerabend schloß daraus, daß es in der Entwicklung der Naturwissenschaften einen ganz normalen und opportunistischen Methodenpluralismus gibt. Diese Tatsache, so glaubte er, bleibe aber oft unerkannt, weil zu vielen Zeiten (wie z.B.in der Periode der aristotelisch-scholastischen Physik) immer nur eine einzige Methode als richt angesehen werde, die dann oft noch als absolut gültig betrachtet würde. Man müsse also lernen, historisch und interkulturell über das menschliche Wissen nachzudenken, um den richtigen Blick aud die eirkliche Methodenvielfalt der Wissenschaft zu erreichen.
Aber von dieser Position, die Feyerabend solchermaßen in den späten sechziger Jahren vertrat und die sich in vieler Hinsicht an Thomas Kuhns Auffassungen anlehnte, war es noch ein großer Schritt bis zu dem erkenntnistheoretischen Anarchismus, den er in den siebziger Jahren seinen Studenten in Berkeley vortrug. Denn dieser Anarchismus besagte ja nicht nur, daß es in der Tat in jeder Periode der Wissenschaften verschiedene Methoden gibt, sondern der wollte zugleich ein praktisches Programm sein, das zu Vervielfältigung (proliferation) von Methoden aufrief. Der Übergang von der ersten, historischen und wissenschaftstheoretischen These zu dieser neuen, programmatisch-politischen ist in der Fassung von Wider den Methodenzwang klar angezeigt, die Feyerabend 1970 in Minnesota Studies veröffentlicht hat. Da heisst es erst einmal: “Die liberale [d.h. pluralistische] Praxis … ist nicht nur ein Faktum der Wissenschaftsgeschichte… Sie ist vernünftig und für das Wachstum des Wissens absolut notwendig.” (1970, S. 22) An dieser einführenden Stelle seines Textes argumentiert Feyerabend noch vorsichtig damit, daß es “bei jeder Regel, sei sie noch so ‘grundlegend’ immer Umstände gibt, in denen man gut beraten ist, nicht nur die Regel unbeachtet zu lassen sondern ihr Gegenteil anzunehmen.” Wenig später im Text macht er aber klar, daß es ihm nicht nur um diese begrenzte Feststellung sondern allgemein um die Rechtfertigung einer unbeschränkten Vervielfältigung von Methoden geht. Er schreibt in diesem Zusammenhang, daß John Stuart Mill zuerst die Idee der Vervielfältigung eingeführt habe und zwar nicht nur als Lösung für spezifisch epistemologische Probleme. “Vervielfältigung wird [von Mill] als Lösung für ein Lebensproblem eingeführt: wie kann ich ein volles Bewußtsein erreichen; wie können wir erfahren, zu was wir zu handeln fähig sind; wie können wir unsere Freiheit vergrössern, sodaß wir darüber entscheiden können, wie wir unsere Talente gebrauchen wollen, anstatt von Gewohnheiten geleitet zu werden?” (1970, S. 28) Zum Abschluss seiner Aufsatzes macht Feyerabend dann noch einmal klar, daß seine Bemerkungen über den Methodenpluralismus einen doppelten Zweck haben. Zum einen, den Zweck das historische Vorgehen der Wissenschaften realistisch zu fassen, zum zweiten, ein praktisches Programm zu verkünden, das sowohl für die Weiterentwicklung des Wissens als für die moralischen und politische Entwicklung des Menschen gelten soll. Er schreibt in dieser doppelten Absicht:
Die Idee, daß die Wissenschaft nach festen Regeln vorgehen kann oder vorgehen
sollte und daß ihre Rationalität im Festhalten an solchen Regeln besteht, ist
sowohl unrealistisch wie verwerflich (vicious). Sie ist unrealistisch, da sie ein
vereinfachtes Bild der menschlichen Talente gibt und der Umstände, die ihre
Entwicklung fördert oder verursacht. Sie ist verwerflich, weil der Versuch die
Regeln durchzusetzen unzweifelhaft Barrieren errichtet gegen das, was die
Menschen sein könnten und unsere Menschlichkeit vermindert während
sie unsere professoniellen Qualifizierung verbessert. (1979, S. 91)
Man sieht schon von dieser Terminologie, daß es Feyerabend in dieser Bemerkung nicht nur um die erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen realistischen und unrealistischen Beschreibungen der Wissenschaftsgeschichte geht sondern ebenso um den Unterschied zwischen einer humanen und einer verwerflichen Haltung zur Wissenschaft
Der von Feyerabend propagierte Anarchismus lässt sich allerdings auch mit rein erkenntnistheoretischen Überlegungen nicht plausibel machen. Die von Feyerabend so oft herangezogenen Überlegungen über Galileo’s methodologichen Opportunismus beweisen, zum Beispiel, höchstens, daß ein solcher Opportunismus zu gewissen Zeiten und in gewissen Situationen nützlich sein kann, nicht daß er überall und immer richtig ist. Gegen die fest verankerte Methodologie der Aristoteliker und Scholastiker konnte Galileo vielleicht nur seinen Kampf gewinnen, wenn er ihn mit allen verfügbaren Mitteln führte. Methodenvervielfältigung ist in der Tat manchmal, aber nur manchmal, sinnvoll. Wenn sich, wie zum Beispiel im Falle Galileos, die vorherrschende Methode einer Wissenschaft als unfruchtbar erwiesen hat, dann macht es Sinn, nach neuen Untersuchungsmethoden Ausschau zu halten. Auch wenn ein Forschungsgebiet so komplex, oder so unüberschaubar ist, daß die vorherrschende Methode den Untersuchungsgegenstand nur teilweise oder ungenügend erfassen kann, dann ist es sinnvoll, neue Methoden ins Auge inzuführen und anzuwenden.
Wir können das vielleicht heute genau in der Philosophie beobachten. Hier hat, zumindet in bestimmten Zirkeln, lange ein rein logisch-analytisches Vorgehen dominiert. Diese Vorherrschaft erklärt sich nun daraus, daß diese Methodik sich, in der Tat, für gewisse Probleme als ungeheuer ertragreich erwiesen hat. Das gilt insbesondere im Bereich der Philosophie der Mathematik und auch im Gebiet der Bedeutungstheorie. Aber selbst in Fragen, welche direkt die Grundlagen der Mathematik und den Begriff der Bedeutung betreffen, hat sie sich die logisch-analytische Methode nicht in jeder Beziehung bewährt. In diesen beiden Gebieten ergeben sich nämlich auch Fragen, für deren Beantwortung man historische, hermeneutische, und phänomenologische Untersuchungsmethoden heranziehen muss. Ähnliches wird deutlich, im Gebiet der moralischen und politischen Probleme und noch allgemeiner im Bereich von Fragen, welche sich auf die menschliche Existenz als Ganzes beziehen. In allen diesen Bereichen erweist sich die rein logisch-analytische Methode schnell als unzureichend. Analytische Philosophen haben versucht, auf zwei verschiedene Pfaden dieser Herausforderung Herr zu werden. Zum einen haben sie versucht, die philosophischen Probleme, soweit es geht, doch noch in das prokrustäistische Bett ihrer Methodik zu zwingen. Das hat, zum Beispiel, im Bereich der Moral zur zeitweiligen Konzentration auf die Metaethik geführt, wo man, wie es scheint, mit logisch-analytischen Mitteln erfolgreich arbeiten kann. Zum anderen haben die analytischen Philosophen alle Probleme, die sich nicht in einer solchen Weise behandeln lassen, als unphilosophisch beiseite gesetzt. Beide Pfade haben sich aber als nicht ganz erfolreich erwiesen. Wir sollten daher den Schluss ziehen, daß die logisch-analytische Methode für die Lösung von manchen philosophischen Problemen nützlich ist, aber in anderen Fällen nichts taugt. Das heißt nun nicht, daß wir in solchen Situationen eine spezifische andere Methodik zur Hand nehmen können. Vielmehr scheint es charakteristisch für alle philosophischen Fragen, die unser Menschsein betreffen, daß wir sie nur voll in den Griff bekommen, wen wir sie von verschiedenen Seiten und in verschiedenen Weisen anpacken. In dieser Situation ist es also durchaus sinnvoll, verschiedene methodische Zugänge auszuprobieren und mit einander konkurrieren zu lassen: ich meine hier phänomenologische, hermeneutische, genealogische, archaeologische, historische, dekonstruktive Methoden und was alles weiterhin heute so in der philosophischen Praxis gebraucht wird. Die verschiedenen Probleme in diesen Gebieten formen hier sozusagen einen Körper, den wir von verschiedenen Richtungen her, also mit verschiedenen Methoden durchschneiden müssen. Nur mit Hilfe dieser sich so ergebenden Schnittflächen können wir diesen Körper begrifflich rekonstruieren.
Die Vervielfältigung von Methoden hat aber auch ihren Preis und kann daher nicht überall und in allen Situationen brauchbar sein. Zum ersten, muss man nämlich oft lange mit einer bestimmten Methode arbeiten, ehe sie sich als fruchtbar (oder als unfruchtbar) erweist. Methoden sind ja in gewisser Weise überhaupt Langzeitstrategien, und wenn man sich nun erlaubt, freiweg immer neue Methoden zu erfinden, gibt man die möglichen Vorteile solcher Lagzeitstrategien auf. In seinen pragmatischen Überlegungen zur Frage, wie man vorgehen soll, wenn man (noch) keine absolut gültige Vorgehensregel besitzt, schreibt Descartes im Diskurs über die Methode ganz richtig, daß man in diesem Falle solange wie möglich an einer mehr oder weniger willkürlichen Regel festhalten sollte, weil man am besten aus einem großen Wald herauskommt, indem man immer geradeaus geht. Feyerabends Vervielfältigungsprogramm erkennt zum zweiten nicht, daß die Anwendung einer Vielfalt von Methoden auch Kosten verursacht, zum Beispiel an Denkkraft, an Arbeitskraft, aber auch an Material. Solchen Kosten sind zwar in den Geisteswissenschaften und inbesondere in der Philosophie erträglich. Im schlimmsten Falle kommt es dazu, daß ein Philosoph oder eine philosophische Schule sich im Gebrauch von irgendwelchen unfruchtbaren Methoden verschwendet. Aber die Philosophie ist ja überhaupt ein Unternehmen, bei dem das meiste auf dem Schutthaufen der Geschichte oder zumindet auf einem staubigen Bücherregal landet. In den Naturwissenschaften liegt die Sache aber ganz anders. Da verlangt der Einsatz einer bestimmten Unteruchungsmethode oft gewaltige Investititionen an Geisteskraft, an Zeit und an Material. Das macht die Vervielfältigung von Methoden in vielen Situationen nicht nur unattraktiv sondern auch oft im Sinne Machs unökonomisch. Wenn Feyerabend von einer solchen Vervielfältigung sprach, dann dachte er natürlich immer an die Naturwissenschaften. Aber es ist möglich und, ich glaube auch eigentlich plausibel, daß seine Lektionen zur Methodenfrage besser auf die Philosophie als auf die Naturwissenschaften passen. Denn die Philosophie ist ja im Gegensatz zur Wissenschaft eigentlich – auch wenn sie das selbst nicht immer erkennt – ein durch und durch anarchisches Unternehmen.
Bibliographie
Paul Feyerabend, “Against Method”, Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Bd. 4, University of Minnesota Press, Minneapolis 1970, 17-130
Paul Feyerabend, Against Method. Outline of an anarchistic theory of knowledge, NLB, London 1975
Paul Feyerabend, Science in a Free Society, NLB, London 1978
Paul Feyerabend, Killing Time, The University of Chicago Press, Chicago und London 1995